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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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Taschentuch weg.
    »Mehr Licht hier!« befiehlt der Narbige und nimmt seinen Zylinder ab. Er klemmt sich ein Monokel unter die rechte Augenbraue und bewegt seinen Kopf entlang des geschundenen Körpers. Die Laternen leuchten sein Gesicht seitlich an und lassen die Narbe dunkler und tiefer erscheinen. Dann richtet er sich auf und wendet sich an mich. »Ich dachte, ich hätte schon einiges gesehen... Nun, das ist Ihr Parkett, mein Bester.«
    Er tritt zur Seite und lässt mir den Vortritt. Ich betrachte die Frau und denke darüber nach, ob sie hübsch war. Doch jeder Blick in ihr Gesicht scheitert an den aufgerissenen, starren Augen. Langsam schiebe ich eine Hand unter den Rücken der Leiche und hebe den Torso ein wenig auf die Seite. Er ist erstaunlich leicht.
    Ich bücke mich und sehe mir den Rücken der Frau an.
    »Mehr Licht«, ruft wieder der Narbige und hält seine eigene Laterne über meine Schulter.
    Ich lege den Körper wieder auf den massiven Marmortisch zurück. Mit meinem Zeigefinger drücke ich in ihren Bauch und bewege das Kinn ein wenig zur Seite. Dann verschließe ich ihre Augen und prüfe die Augenlider.
    »Die Totenstarre ist bereits eingetreten. Ohne die Gliedmaßen ist es für mich schwer einen zuverlässigen Todeszeitpunkt zu benennen. Aber dem ausgetretenen Blut um ihren Mund nach zu urteilen, vielleicht vor drei oder vier Stunden. Die Gliedmaßen wurden viel früher entfernt. Vielleicht vor Tagen oder Wochen.« Ich sehe den Mann mit der Narbe an und schüttle kurz den Kopf. »Aber deswegen haben Sie mich nicht hergeholt.«
    »Sie haben übrigens ganz schöne Befugnisse für jemanden, der kein offizieller Ermittler ist«, äußert sich der Narbige mit ausdruckslosem Gesicht. Dann greift er unter sein Hemd und reicht mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Es lag neben ihrem Kopf.«
    Einer seiner Polizisten schnaubt abfällig und beginnt den restlichen Raum zu untersuchen.
    Ich falte das Blatt auseinander und lese die Zeilen.
     
    »D U E INZIGER , IN DEM MEIN GANZES S EIN
    V OLLKOMMENHEIT UND S TOLZ UND R UHE FINDET !
    E RFREUT SEH ‘ ICH D EIN A NTLITZ UND DEN M ORGEN ;
    D ENN DIESE N ACHT , WIE KEIN ‘ ICH NOCH BESTAND ,
    D A TRÄUMT ‘ ICH , WENN ICH TRÄUMTE , NICHT WIE SONST
    V ON D IR , UND VON DES VORIGEN T AGES M ÜH ‘ N ,
    V ON P LÄNEN FÜR DEN NÄCHSTEN M ORGEN , NEIN
    I CH TRÄUMTE VON V ERBRECHEN RUHELOS ,
    D IE VORHER NIE MEIN B USEN NOCH GEKANNT ;
    M IR WAR , ALS RIEFE DICHT AN MEINEM O HR
    M IR J EMAND FORTZUGEHN MIT SANFTER S TIMME ...«
     
    »Es ist an mich adressiert«, erkläre ich knapp.
    »Er schreibt Ihnen Briefe?« fragt der Narbige misstrauisch und blickt mich an, als würde er es bereuen, mich mitgenommen zu haben. »Zünftig...«
    »Er hat eine Schwäche für ungewöhnliche Formen der Verständigung«, fahre ich fort, wissend, dass diese Unterhaltung eigentlich eine Zeitverschwendung ist. »Er will, dass ich ihn verstehe.«
    Der Narbige verzieht das Gesicht, als versuche er ohne Hände eine Fliege von seiner Wange zu verscheuchen. »Und was schreibt er Ihnen...? Für mich war´s nur Kauderwelsch.«
    »John Milton. Das verlorene Paradies «, lautet meine Antwort. »Er sagt mir auf diese Weise, dass er nicht mehr wiederkommt.«
    Ich mustere gedankenverloren den Torso auf dem Tisch, und jene Stellen, an den sich die Füße und die Hände der Frau befinden sollten.
    Inzwischen dringen weitere Polizisten in den Raum. Ich höre, wie sich jemand hinter mir übergibt.
    »Ruhe!« ruft der Narbige. »Wer glaubt hier kotzen zu müssen, geht wieder raus und hilft oben bei den Trümmern.«
    Ich atme tief durch den Mund. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Körperflüssigkeiten droht mich zu betäuben. Stumm deute ich einem der Polizisten, mir die Laterne zu geben. Ich stelle sie auf den Tisch, an jene Stelle, an der normalerweise ihre Knie wären, und ziehe ein Vergrößerungsglas aus meiner Tasche.
    Der Narbige zeigt die ersten Anzeichen von Ungeduld.
    »Das kann sicher warten bis wir sie in die Leichenhalle gebracht...«
    Ich blicke kurz von meinem Vergrößerungsglas hoch. »Er hatte es eilig...«
    »Das haben Sie aus dem Starren in ihre...?«
    Ich zucke zusammen, denn das vergrößerte Gewebe unter meiner Lupe bewegt sich plötzlich. Ich blicke wieder hin, doch nun brauche ich kein Vergrößerungsglas mehr, um es zu sehen.
    »Sie lebt...«, höre ich jemanden hinter mir mit erstickter Stimme hauchen.
    Ihre Augen öffnen sich. Als setzten sich plötzlich zwei dunkle
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