Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
Vom Netzwerk:
gewöhnte mich an die seltsamen Bilder in meinem Kopf. Da ich aber mit niemandem über sie sprach, hielt ich ihre Intensität und ihr Detailreichtum für normal. Ich nahm an, dass jeder Mensch plastische Träume voller Blut und Gewalt habe. Man redet nur nicht darüber. Und so wie ich mit fünf Jahren begriffen habe, dass es ein Tabu ist, in der Öffentlichkeit an meinen Genitalien herumzuspielen, begriff ich mit vierzehn, dass die Menschen nicht über ihre Albträume sprechen. Ich übersah vollkommen, dass diese Annahme, diese Überzeugung ein Produkt meiner Einbildung war. Ich glaubte an ein Tabu, wo kein wirkliches Tabu bestand. Aber auch wenn ich darüber gesprochen hätte — was hätte man mir anderes angeboten als noch mehr Psychotherapeuten und rezeptpflichtige Psychopharmaka?
    Doch oft stellte ich mir die Frage, ob ich nicht wirklich einen Dachschaden hatte und auf die Hilfe von Fachleuten angewiesen war. Ich ahnte, dass viele seelische Erkrankungen nicht so einfach entdeckt werden können, da der betroffene Mensch dazu tendiert, sie nicht zu sehen und auf die bloße Idee, etwas sei mit ihm in Unordnung, mit Ablehnung und Gereiztheit reagiert. Kein Siebzehnjähriger möchte hören, dass er psychisch krank sei. Es fällt ihm leichter bei einer solchen Bemerkung eine Schlägerei anzuzetteln.
    Die Hyper-Albträume waren zugleich aber auch mein Pubertätsritual, meine Entnabelung von der Welt der Heuchler. Ich mochte es damals nicht so verstanden haben, doch es war dieser Grad an Andersartigkeit, der mich wahrnehmungsfähig und empfänglich für die Welt von Paul Lichtmann machte.
    Die nächtlichen Erfahrungen verblassten, wie sonstige Träume und Albträume. Ich fand bald heraus, dass das Cannabis hierbei half. Je mehr ich kiffte, desto weniger konnte ich mich am nächsten Tag an die Albträume erinnern. Die Welt mag hier etwas von einer Einstiegsdroge plappern, doch ich erkenne etwas Heiliges, wenn ich es sehe.
    Mit dieser Art von Bettnässen hörte ich mit fünfzehn Jahren auf. Es war höchste Zeit. Sicherlich fiel meinem Vater ein Stein vom Herzen. Doch er sprach dieses Thema niemals an. Nachdem diese äußerlichen, peinlichen Symptome meiner Hyper-Albträume nicht mehr auftraten, hielt jeder das Problem für erledigt.
    Vor mich hinstarrend stand ich da — der Löffel steckte noch immer in der Kaffeedose. Menschen sehen wohl nie sehr intelligent aus, wenn sie inmitten ihrer Gedanken »einfrieren« und abwesend vor sich hinschauen. In den Tiefen der Vergangenheit, als der Mensch noch um das Feuer kämpfte, mochte dieser Augenblick der Versunkenheit tödlich gewesen sein und ein Ende in den Fängen eines Raubtiers bedeuten. Oder den tödlichen Schlag eines Steinzeitkollegen. Heute lässt man es bei der schroffen Stimme eines Vorgesetzten bewenden, der den Tagträumer von seiner Reise zu fernen Gestaden wachrüttelt. Oder...
    Ein mehrfaches Fingerschnipsen vor meinem Gesicht holte mich zurück. Ich sah auf die Kaffeedose in meinen Händen. Ich blickte in Evelyns fragendes Gesicht und lächelte.
    »Ich... Ich war in Gedanken.«
    Evelyn ist eine tolle Frau. Statt mich zu einem Psychiater zu schleppen, drückt sie mir einen Block in die Hand und sagt: Schreib!
    Sie wirkte frisch und vital, als wäre sie bereits seit Stunden wach. Das Vorrecht sportlicher Leute.
    Das Wasser blubberte bereits vor sich hin, also nahm ich noch eine zweite Tasse aus dem Regal und beeilte mich damit, Kaffee und Zucker hineinzulöffeln.
    Evelyn trug ihren apricotfarbenen Kimono. Sie hatte ihn nicht zugebunden und ich blickte auf die winzige rosarote Brustwarze, die sich unter der Falte des Kimonos rausschälte. Sie bemerkte meinen Blick und folgte ihm. Statt beschämt den Morgenmantel straffer zu ziehen, lächelte sie nur und zog ihn noch weiter auseinander. Sie hatte durchaus einen notorischen Hang zum Exhibitionismus. Eine Art Kontrastprogramm zu einer seltsamen Schüchternheit, die genauso ein Teil von ihr war. In ihr fand eine ewige Schlacht zwischen dem sanguinischen und dem melancholischen Temperament statt. Sie lehnte sich gegen die Küchenzeile und lächelte schelmisch. Ihre Brüste waren klein und hatten ein adoleszentes Flair. Ihre Scham war in der Form eines Kreuzes rasiert. Ihre Haarfarbe änderte sich ständig: von pechschwarz zu schwarz-blau oder schwarzrot, dann wieder schneeweiß oder cremeblond. Ihr blasser, beinahe schneeweißer Körper war übersät mit Tätowierungen. Irische Bekenntnisse auf der Schulter. Seltsamer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher