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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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ich bereits im Zug angelesen hatte. Wirklich prächtig, dachte ich damals und setzte meine beste Dirty-Harry-Miene auf.
    Aus einem der Bücher ragte ein Lesezeichen heraus. Ich schlug das Buch an dieser Stelle auf. Ein Absatz war mit einem Bleistift markiert. Ich las den Anfang.
    »W IR SIND P TOLEMÄER ...«
    Ich sah auf den Einband. Es war ein Buch aus dem Jahr 1956 und trug den Titel Biologie und Geist . Der Autor hieß Adolf Portmann. Es war mir gänzlich unklar, was jemanden motiviert haben könnte, gerade diesen Absatz zu markieren. Ich legte das Buch beiseite und musterte das Lesezeichen. Es war in Wirklichkeit ein Handzettel, der in den Eingängen von Nachtclubs ausgeteilt wird. Kein billiger Flyer, sondern auf teurem Hochglanzpapier gedruckte Werbung für ein Lokal mit dem Namen Danglars . Dem Foto nach zu urteilen, musste es sich um einen dieser Lack-und-Leder-Clubs handeln, von den es in Großstädten immer mehr gab. Unter der Wegbeschreibung stand die Zeile: »Dienstag: kein Dresscode, offener Einlass.«
    Ich legte das Lesezeichen auf den Tisch und sah nach den vier Mädchen. Sie lümmelten sich auf dem großen Bett und wirkten sichtlich entspannt. Das mutete irgendwie unwirklich an, doch ich ahnte, dass ich mich an diese neue Tonart in meinem Leben gewöhnen musste. Ich hatte den ausgetretenen Pfad verlassen und nichts würde so sein, wie es bisher war. Wieder einmal.
    Wir blieben, denn wir hatten sonst keinen Platz, an dem wir uns hätten verstecken können. Die meiste Zeit saß ich mit den Frauen vor dem Fernseher, schlang roboterhaft Popcorn in mich hinein, stets in der Erwartung, dass jemand einen zweiten Schlüssel in das Haustürschloss schob, hineintrat und mich dann entweder tötete oder aufklärte. Aber nichts geschah. Weder der Tod noch die Wahrheit ereilten mich.
    Der Kühlschrank beinhaltete einige Lebensmittel — alles Sachen mit langer Haltbarkeitsdauer. Nur in dem Gefrierfach steckte eine steinharte Stange Toastbrot. Immerhin. In meinem Gefrierfach in München gab es nur die eisgefrorenen Schalen von einer Wassermelone. Ich war irgendwann zu faul, sie in eine Mülltonne zu werfen — eine faulende Wassermelonenschale inmitten eines heißen Sommertags kann das Leben zur Hölle machen.
    Als ich einige Tage später loszog, um neue Fressalien einzukaufen, erwartete mich nach meiner Rückkehr eine Überraschung. Die Wohnung war leer und die vier Frauen weg. Ich stand im Schlafzimmer und konnte sie noch immer riechen. Diese eigentümliche Mischung aus Lavendel, Gewürzen und Mottenkugeln.
    Mit ausdrucksloser Miene ging ich in die Küche, öffnete das Gefrierfach und nahm den kleinen Plastikbeutel heraus. Er fühlte sich deutlich leichter an. Ich griff nach dem Geldbündel. Es waren nur noch fünf Tausendmarkscheine. Auf ihnen klebte ein gelbes Post-it mit der krakeligen Aufschrift:
     
    Sorry!
    We ♥ You!
     
    So fühlt es sich also an, wenn man gerade um dreiundzwanzigtausend Mark erleichtert wurde. Ich steckte das restliche Geld wieder zurück und klappte die Tür des Gefrierfachs zu. Mit einem Bier setzte ich mich vor den Fernseher.
    Ich kannte nicht einmal ihre Namen. Sie hatten sie mir einmal gesagt, doch in der Aufregung der letzten Tage hatte ich sie alle wieder vergessen. Sie klangen irgendwie ähnlich.
    Die Mädchen hatten keine Papiere, sie sprachen kein Deutsch, sie waren nicht einmal volljährig, doch sie hatten dreiundzwanzigtausend Mäuse und Schöße, die nicht verwöhnt waren. Vermutlich würden sie morgen schon an Bord eines russischen Frachters sitzen und in einigen Wochen bereits das Chinesische Meer riechen... Zwar starrte ich ausdruckslos auf die Glotze, doch innerlich war ich aufgewühlt. Ich wünschte, sie hätten mich mitgenommen, auf ihre Heimreise. Doch der bloße Gedanke war unsinnig. Ich war ein Produkt des schlechten Wetters und sollte für immer hier bleiben, im Reich des kalten Regens. Die vier Frauen kamen mir plötzlich wie eine Fata Morgana vor. Eine vorübergehende Erscheinung, von der wenig mehr bleibt, als Bruchstücke einer Erinnerung, die sich unaufhaltsam zersetzte und verblasste.
    Ich beschloss bald, dass es an der Zeit war, etwas mehr von der Stadt zu sehen. Den kleinen Lebensmittelladen unweit meiner Wohnung kannte ich nach einigen Tagen schon ganz gut. Und so begann ich auszugehen. Zuerst nur abends und nie ohne einen gewissen Hauch von Vorsicht walten zu lassen. Ich sah mich ständig um, da ich nie die Möglichkeit vergaß, dass man mich während
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