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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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dieser seltsamen Zeit, während dieses gesamten befremdlichen Intermezzos, nicht aus den Augen ließ. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich nichts von meinem Gefrierfachgeld dazu verwendete, mir etwas von dem falschen Gold in der Herbertstraße zu kaufen. Ich wollte nicht beschattet werden, während ich mit Dirnen Preise aushandelte. Dabei hatte ich nicht etwa das Gefühl, dass ich direkt beobachtet wurde. Ich spürte kein unheimliches Paar Augen in meinem Nacken. Es war eher eine logische Annahme, für die ich nur keine Bestätigung fand. Denn niemand kam und kontaktierte mich. Niemand verhielt sich verdächtig. Es gab auch keine Kameras in der Wohnung. Keine Wanzen. Und ich hatte sehr gründlich gesucht, mit allem Wissen, das mir englischsprachige Agentenfilme zur Verfügung stellten. Ich untersuchte sogar das WC nach Kameras, was man eindeutig als eitle Selbstüberschätzung deuten kann. Es gab jedoch keinen Grund, der mir für komplexe Observierungen einfiel. Keinen Grund, mich wochenlang wie eine Maus im Versuchslabyrinth zu beobachten.
    Es vergingen Monate ohne die geringste Veränderung meiner Situation. Ich absolvierte einsame Weihnachten, doch das war ich gewöhnt. Meine Verwandten waren wie stets jenseits meines Ereignishorizonts und weder wusste ich, wo sie waren, noch hatte ich vor, ihnen meinen Aufenthaltsort zu offenbaren.
    Nur einmal hatte ich in einer öffentlichen Telefonkabine die Nummer meines Vaters gewählt. Es war früher Abend und ich nahm an, dass er zuhause saß. Vermutlich las er die Zeitung und blickte über ihren Rand auf die Tagesschau im Fernseher. Es klingelte fünfmal, und dann knackte es kurz in der Leitung. Ich hörte ein kurzangebundenes, karges »Ja?« und erkannte seine Stimme. Vermutlich stand er neben dem Telefon, verärgert über die Störung, mit der schnell gefalteten Zeitung in der Hand. Im Hintergrund hörte ich den Fernseher. Ich legte auf.
    Ich musste nur das Geheimnis akzeptieren, dann mochte es ewig so weitergehen.
    Ich begann, mich in der Künstlerszene herumzutreiben und in Ausstellungen zu gehen. Ich fing an, House- und Technoparties zu besuchen. Ich kaufte mir ein paar CDs. Läden mit schräger Bückware gab es in Hamburg ungefähr zweitausendmal mehr als in München. Ich rauchte wieder gelegentlich einen Joint, aber ich empfand für eine gewisse Zeit nicht mehr die Notwendigkeit, es ständig zu tun. Die Welt hatte einen anderen Grad an Bedeutung und Tiefenschärfe gewonnen. Und so sehr ich davon überzeugt war, dass dieser Zustand nicht ewig halten konnte, gab es in meinem Leben für die Drogen keine banalen Lücken zu schließen. Denn alles war nun rätselhaft.
    Ich hatte Zeit. Ich hatte nicht mehr so viel Geld, doch ich besaß dieses unbeschreibliche Gefühl eines neuen Lebens. Mein Leben war eine neue, leere Leinwand, die zu bemalen ich begann.
     
    Und dann sah ich sie.
    An einem Abend hatte ich beschlossen, Danglars einen Besuch abzustatten. Von dem Handzettel, den ich in dem Buch gefunden hatte, wusste ich, dass Dienstag ein Tag ohne Uniform- und sonstigem Kleiderzwang war. Das Plakat am Eingang versprach »Aurea« und ich beschloss, mir die »Goldene« anzusehen. Vor dem Podium versammelt, befand sich anscheinend das Stammpublikum. Als plötzlich blaue und grüne Scheinwerfer die Bühne in ein unwirkliches Licht eintauchten und der DJ die erste Platte auflegte, begannen sie alle zu schreien, zu pfeifen und zu applaudieren. Sie schien in diesem Club eine feste Größe zu sein. Ein lokaler Kult. Ein kleines Phänomen. Wie eine Jungfrau, die Bluttränen vergießt. Nachdem sich die Bühne in einem dichten Trockennebel auflöste, kam Aurea aus dem Nichts und stand plötzlich vor uns. Sie ver neigte sich zurückhaltend vor dem Publikum. Sie legte die Hände auf die Oberschenkel und wog ihren zerzausten Kopf auf und ab. Ihr Oberkörper steckte in einem Harnisch aus Leder und Metall. An den Füßen trug sie hohe Lederboots, deren Schienbeine mit Aluminium verkleidet waren, in dem sich unentwegt das Licht der Scheinwerfer reflektierte.
    Ich beobachtete die zornige Medusa und war fasziniert. Ich wünschte, jemand hätte mir in diesem Augenblick auf die Schulter geklopft und mir zugeflüstert, was mich schon bald mit dieser Frau erwarten sollte. Ich hätte es nicht geglaubt.
    Sie hatte nicht diese entmythologisierende Art und Weise von Annie Sprinkle. Sie wollte nicht hier und jetzt den Beweis antreten, dass ihre Vagina keine Zähne hatte. Evelyn war das Gegenteil.
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