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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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Schuhwerk und die Reizwäsche von Sexobjekten. Evelyne hatte das Zeug zur Ikone. Wie Cosey Fanni Tutti, Anne Clark oder Nico. Für manche war Evelyn in der Tat bereits eine Legende. Wenn sie beim Tanzen die Augen schloss, tat ich es auch, denn nur dann konnte ich ihr folgen. Wir alle verdienten es im Grunde zu sterben, denn wir betrogen unsere Umwelt und logen unsere Freunde an. Wir heuchelten uns durchs Leben, fraßen Fleisch, trieben Sex mit unseren Handys und vergeudeten alle unsere Gaben, die uns irrtümlicherweise geschenkt worden waren. Doch Evelyn atmete die Zeit ein, als wäre die bloße Existenz eine Liebeserklärung. Sie brach Tabus. Sie war ein kleines und schüchternes Mädchen, das vergessen hatte, lügen zu lernen, und das sich stets aus dem Staub machte, wenn auf einer Party die Menschen mit ihr reden wollten. In den finstersten Subkulturen der Stadt wirkte sie hilfsbedürftig, und doch gab es niemanden, der ihr helfen konnte, denn sie war uns stets einen Schritt voraus.
    Während sie tanzte, kam ich mir vor wie ein wuchtiges Konsummonster im fettigen Unterhemd, das den ganzen Tag vor dem Fernseher Tüten mit Kartoffelchips aufreißt. Aber das musste ich sein. Das war meine Rolle. Nur so konnte sich mir ein Wesen, das mir so sehr überlegen war, unterwerfen. Ich konnte sie niemals beherrschen, dafür war sie zu unbeugsam. Ich konnte sie nur quälen. Willkommen in unserer kleinen Beziehung.
    Aber auch wenn wir es gewollt hätten: Wir hätten es ohnehin nicht geschafft, alltäglich zu sein.
    Und dennoch... Alltäglich...
    Ich erstarrte ein wenig. Evelyns tanzende Gestalt verschwamm vor meinen Augen. Alltäglich... Ein seltsames Gefühl.
    Vorbei an der donnernden Musik hörte ich das kurze, metallische Geräusch der Postklappe. Ich blickte zur Wohnungstür und sah einen Brief und einige Werbeblätter durch den Schlitz auftauchen und zu Boden fallen. Ich stand auf und hob das Kuvert auf. Es war lediglich eine Mitteilung der Stadtwerke, dass in einigen Tagen jemand vorbeikäme, um die Zähler auf den Heizungen und an den Wasserhähnen abzulesen.
    Das war es, das sich so anders anfühlt. Das meinte ich mit Alltag. Die Morgenküsse meiner Konkubine. Der Milchkaffee. Ich hatte seit einigen Tagen immer wieder vergessen, dass ich umhüllt von Geheimnissen lebte. Doch die Rätsel zu ignorieren war absurd. Das hier war noch immer die Wohnung von Dr. Mårtensson und ich hatte keine Ahnung, wer Dr. Mårtensson war. Ob er existierte.
    Wer hier eigentlich die Miete bezahlte oder die Stromrechnungen oder das Telefon. Ich bekam hier niemals Post von irgendeinem Amt oder Vermieter. Nur zweimal im Jahr kam jemand von den Stadtwerken vorbei, um die Zähler an den Heizungen abzulesen und mich einen Wisch unterschreiben zu lassen. Dass ich nicht Mårtensson war, interessierte niemanden.
    Evelyn hatte ich erzählt, ich sei bei dem alten Mann in Untermiete, während dieser wieder in Schweden war und sich dort in einer Spezialklinik in Göteborg behandeln ließ. Es sei aber unwahrscheinlich, dass der alte Professor noch eine weitere Überfahrt zurück nach Hamburg erleben werde. Tolle Geschichte. Wie dramatisch und wie menschlich zugleich. Nur ein Drecksack wie ich erzählt der einzigen Person, auf die er gegenwärtig zählen kann, derartige Lügenmärchen.
    Tracks folgten auf Tracks und ich nahm kaum wahr, wie die Zeit verging. Der Alltag war für Augenblicke vergessen und ich rätselte wieder einmal über die Wahrheit hinter den Vorhängen, die mich umgaben. Manzio — Paul Lichtmann — Hausmeister Mahr — Talitha Kumi — der silberhaarige Erzbischof Gruber — Paul Lichtmann — Manzio — Talitha — Hausmeister Mahr — Paul Lichtmann... Paul Lichtmann. Alles schien sich um ihn zu drehen. Diesen Eindruck hinterließ auf jeden Fall die Unterhaltung zwischen dem Erzbischof und Mahr.
    Evelyn schaltete die Musik ab. Ihr Körper war mit Schweiß bedeckt, als wäre sie einem Swimmingpool entstiegen.
    »Ich lebe«, sagte sie und sah mich lachend, befriedigt an.
    »Wie gut für mich, dass ich dafür nicht sorgen musste«, erwiderte ich ironisch. »Ich würde jetzt eine Ambulanz brauchen.«
    Sie lachte und fuhr mit den Händen durch ihr Haar, das zu jeder Tages- oder Nachtzeit in alle Richtungen stand, außer sie band es zu einem Bündel zusammen.
    »Deine Stereoanlage ist irgendwie kaputt«, rief mir Evelyn aus dem Badezimmer zu, während sie unter die Dusche stieg. »Wenn man auf Pause oder auf Stopp drückt, aber die CD drin
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