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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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Fragment: Der Hyper-Albtraum #23
     
    »Es ist Zeit«, sagt der Mann mit der langen Narbe im Gesicht.
    Die Straße riecht nach verbranntem Holz und Fäulnis. Ich passiere einen alten Holzkarren, auf dem sich einige halbnackte Leichen stapeln. Hausgäste. Die Kutschen mit den provisorischen Särgen kommen hier, in die enge Seitenstraße, nicht hinein. Sie warten an der Einfahrt.
    Die Nacht schwindet langsam aus den Gassen und weicht dem Grauen des Morgens. Ich folge dem dunklen Mann mit der Narbe entlang der Grenze zwischen Licht und Finsternis. Er trägt einen hohen Zylinder und stützt sich beim Gehen auf seinen eleganten und doch massiven Stock.
    Leichter Nebel umhüllt uns. Grauer Nebel. Morgendunst. Wabert er nur in meinen Gedanken, oder wirklich hier, in diesen Straßen?
    »Sie sind alle tot?« frage ich, ohne ihn anzusehen.
    Der Narbige dreht sich kurz um. »Er muss irgendwie erfahren haben, dass wir kommen. Seine Gefangenen konnte er nicht mitnehmen.«
    Ich blicke kurz hoch, heraus aus der Gasse zu dem schmalen Streifen Himmel über mir. Taubenflügel schlagen. Die letzten Sterne verblassen in der Ahnung der kommenden Sonne. Ich entdecke einige neugierige Augen, die aus Fenstern unser Tun beobachten.
    »Wir müssen hier aufgeräumt haben, bevor es richtig hell wird«, befiehlt der Narbige seinen Leuten. »Maria und Josef. Was für eine Nacht.«
    Am Ende der Gasse bleiben wir stehen. Es sieht aus, als ob die Straße hier früher weiterführte und irgendwann zugemauert wurde.
    Die Polizisten sind bereits dabei, die Steine aus der Mauer heraus zu reißen. Sie schlagen mit spitzen Hacken und schweren Vorschlaghämmern gegen die alten Ziegel. Langsam setzen sie die Dunkelheit dahinter frei.
    »Wer ist das?« knurrt einer von ihnen und blickt mich an. Die Stimmung ist gereizt.
    Der Narbige fordert ihn mit einer kurzen Handbewegung auf zu schweigen. »Ist schon in Ordnung.«
    »Wir haben festgestellt, dass Stagnatti hier im Erdgeschoß drei benachbarte Wohnungen gehörten. Angemietet unter falschen Namen...«, erklärt mir der Narbige. »Und die dazugehörigen Keller.«
    Bald schon steigen die ersten Polizisten in das in die Wand geschlagene Loch hinein. Wir warten. Nach einigen Minuten kehren sie zurück. Einige taumeln zur Seite und übergeben sich. Ein vertrautes Bild.
    Dann greift der Narbige nach einer der brennenden Laternen und tritt über das Geröll, hinein in die dunkle Passage. Ich folge ihm.
    Wir steigen eine schmale Steintreppe hinab und passieren verschlossene Türen und Zellen. Am Ende des Gangs flimmert Licht. Es ist ein Raum am Ende des Tunnels. Ein grässlicher Geruch schlägt uns entgegen. Ich sehe Käfige und eiserne Stühle mit Fesseln. Instrumente aus Stahl. Kanülen und große Glasbehälter. Der Narbige hält seine Laterne in die Nähe der massiven Glaszylinder. Körperorgane schwimmen dort im Alkohol.
    Der Narbige wendet sich mir kurz zu und blendet mich mit seinem Licht: »Als würde er mit dem Engländer um die Wette töten...«
    Ich habe keine Gelegenheit, über seine Worte nachzudenken, denn sogleich betreten wir das Reich des Schreckens. Ein Reich, das ständig seinen Platz verändert und das vielleicht niemals besiegt werden kann. Und wo immer es in Erscheinung tritt, bin ich auch zur Stelle. Doch stets komme ich zu spät. Als wäre es meine Bestimmung, gegen das Böse zu verlieren.
    Schweigend beobachte ich die Frau und versuche mich an das Bild zu gewöhnen, um in einigen Augenblicken sachlich und ruhig meiner Arbeit nachgehen zu können. Wir starren sie an, als wäre sie eine furchterregende Statue in einer ägyptischen Krypta. Ein heller Torso inmitten der Finsternis. Es besteht kein Zweifel, dass sie noch nicht lange tot ist. Sie ist blass, doch das Blut ist noch nicht vollständig verkrustet. Insgeheim bin ich froh, dass sie tot ist. Allein die Vorstellung, eine lebendige Frau vorzufinden, der alle Gliedmaßen entfernt wurden, lähmt mich.
    Sie liegt auf einem großen, schweren Tisch mit einer Marmorplatte. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Tisch mehr eine pathologische oder eine zeremonielle Bestimmung hat. Der flache Kanal zum Abführen des Blutes, der in den Rand der Tischplatte eingelassen ist, mag für beides zweckmäßig sein.
    Ich mustere kurz das rechteckige Taschentuch, das über ihren Schoß gelegt worden war.
    »Waren das Ihre Männer?«
    Der Narbige nickt unmerklich.
    »Niemand fasst hier etwas an!« erwidere ich verärgert und reiße mit den Fingerspitzen das
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