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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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Motten auf ihre Lider.
    Im Hintergrund höre ich Geschrei und Getrampel. Die Polizisten versuchen zurück in den Tunnel zu flüchten. Doch ich selbst bin erstarrt wie eine Salzsäule. Ich würde gerne zurücktreten, mit ihnen laufen, doch ich kann nicht. Ich bin wie angewachsen. Wie hypnotisiert.
    Ihre herben, rissigen Lippen formen Worte. Ich neige meinen Körper nach vorn, um die leise Stimme zu hören.
    »Ich habe nicht mehr als meine Liebe«, flüstert sie mir ins Ohr und klingt wie meine Mutter. In meinem Kopf explodieren Sterne.
    Auch meine Augen öffnen sich. Ich reiße mich hoch und blicke um mich. Es ist dunkel. Langsam beginne ich die Umgebung zu entschlüsseln. Das Schlafzimmer.
    Ich blicke zum Vorhang, an dessen Rändern sich bereits schwaches Licht zeigt. Jemand steht plötzlich über mir. Ich schreie erstickt auf.
    »Schreib«, sagt Evelyn bestimmend, doch mit einer Stimme, die Orientierung gibt. Eine Nachttischlampe wird angeknipst und ich sehe Evelyn neben mir sitzen, mit einem Schreibblock in der Hand und einem gespitzten Bleistift. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit der neonfarbenen Aufschrift: I´m so glamorous I cum glitter.
    »Schreib. Denk nicht. Schreib.«
    Ich nehme den Block aus ihrer Hand und kratze eilig über das Papier. Der Schlaf, dessen Tentakel noch immer meinen Schädel und meine Augen umschließen, löst sich langsam von mir. Doch mit ihm auch die Erinnerung. Ich spüre, wie der Traum bereits verblasst und zerfällt. Als ich fertig bin, falle ich rückwärts auf mein Kissen und starre schwer atmend an die Decke. Erst jetzt merke ich, dass ich schweißgebadet bin und mich erschöpft fühle, als hätte ich anstelle zu schlafen, die letzten Stunden in einem Bergwerk gearbeitet. Ich blicke nach links und beobachte Evelyn. Sie schläft längst wieder.

2.01 Aurea
     
    Meine Nacht ist vorüber. Isis sei Dank. Nach einer Weile stehe ich auf und schiebe den Vorhang eine Handbreit beiseite. Draußen hatte es geregnet. Die Welt ist wieder genauso grau, wie ich sie zu sehen gewohnt bin. Doch in meinem Kopf lebt noch die Farbe des verkrusteten Blutes und der Geruch von Desinfektionsmittel. Die Bilder sind zerfallen, aber der sinnliche Eindruck bleibt. Mindestens einen Tag lang. Ich taumle in die Küche, um das Wasser für einen Kaffee aufzusetzen.
    Es kommt mir vor, als hätte ich schon immer Albträume gehabt, doch ich weiß, dass das eine Selbstlüge ist, denn es gab keinen derartigen Albtraum in meinem Schlaf bevor ich als Kind den Tod in der Prager Kanalisation kennenlernte. Aber da andere Menschen auch schlecht träumen, dachte ich nie, dass das etwas Besonderes sei. Nur sehr langsam begann ich zu begreifen, dass dieser Grusel anders ist, als die Albträume der meisten Menschen, ja sogar anders, als meine eigenen restlichen Träume.
    Natürlich habe ich auch gewöhnliche Träume. Manche sind gut, manche sind vermutlich Albträume — doch das nehme ich kaum wahr, denn sie muten an wie karibische Ferienhäuser, verglichen mit jenen speziellen Träumen, die mich ein oder zweimal im Monat aufsuchen.
    Als ich einmal mit zwölf oder dreizehn Jahren aus diesen Träumen schreiend und schweißnass im Bett hochfuhr, versuchte mich meine Mutter zu beruhigen. Sie streichelte über mein kreidebleiches Gesicht und erzählte mir, dass es nur meine Einbildung sei und es nichts gebe, wovor ich Angst haben müsste. Ich glaubte ihr kein Wort. Doch ich fürchtete mich davor, mein Verhalten könnte mich sonderbar erscheinen lassen. Ich hatte eine seltsame, tiefe Angst vor Ärzten. So nickte ich nur, wischte mir die Tränen weg und tat so, als wäre ich von ihren Worten überzeugt. Ich fühlte mich in der Nähe meiner Eltern stets allein und hilflos. Ein seltsames Kind.
    Mein Vater stand nur daneben und sah mit versteinerter Miene zu, wie ich aufstehen musste, damit meine Mutter das nasse Bettlaken wechseln konnte. So sahen meine feuchten Träume aus. Und mein Vater glaubte, dass das Leben ungerecht sei und deshalb erfuhr er die Ungerechtigkeit jeden Tag. Damals ahnte er noch nicht, was auf ihn durch meinen Bruder Roman zukam. Die Verschwörung der verweichlichten Söhne.
    Raven von den Teen Titans und John Constantine aus Hellblazer waren bei diesen wiederkehrenden Traumkrisen viel wirksamere Helfer, aber am Ende war es die bedingungslose Zeit, die mich lehrte, mit mir und meinen Gedanken auszukommen. Jahre vergingen, Psychiater kamen und gingen, zuerst die sozialistischen und dann die kapitalistischen. Ich
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