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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren
Autoren: Héctor Tobar
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eines Mannes, zweier Jungen und eines Kleinkinds beherrscht wurde. Maureen schrieb HAPPY BIRTHDAY KEENAN in der serifenstarken Schrift, die man von römischen Bauwerken und Denkmälern kennt. Darunter versuchte la señora etwas zu zeichnen, das nach einem Römerhelm aussah – das Geburtstagsthema orientierte sich an Keenans jüngster Begeisterung für eine europäische Comicserie. Maureen zog unter Aracelis strengen Blicken eine weitere Linie, dann schreckten sie beide vom Schreien des Babys auf, das scheinbar direkt hinter la señoras Schulter ertönte. Araceli drehte sich rasch um und sah die roten Ausschlaglichter am Babyfon leuchten, während Maureen ruhig aufstand und ins Babyzimmer ging.
    Kurz darauf kam sie zurück in den Flur, mit Samantha auf dem Arm, einem fünfzehn Monate alten Mädchen, dessen haselnussbraune Augen noch feucht waren vom Weinen. Sie hatte die milchweiße Haut und das feine Haar ihrer Mutter, auch wenn ihre Kleinkindlocken jetzt noch dunkelbraun waren. La señora hielt ihre Tochter hoch, wippte sie und machte Kussgeräusche, bis sie zu weinen aufhörte, und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie übergab Samantha an Araceli. Im Haushalt der Torres-Thompsons hatte dieses kleine Mädchen die Aura eines heiligen und zerbrechlichen Gegenstandes, sie wurde behandelt wie eine japanische Vase auf zwei schwankenden Beinen. In den letzten Wochen hatte sie angefangen zu laufen, eine Welt voller Möglichkeiten und Gefahren betreten, war mit zögernden Frankensteinschritten durchs Zimmer in die Arme ihrer Mutter getappt. Guadalupe hatte das Kind jeden Tag stundenlang herumgetragen, aber jetzt war Guadalupe weg, und anscheinend fiel diese Aufgabe zumindest teilweise nun Araceli zu, die sich nicht sicher war, ob sie willens oder bereit war, ein Kleinkind zu versorgen. In den fünfzehn Monaten ihrer Anstellung hatte sie zwar mehrere hundert schmutzige Windeln weggeworfen, das Kind aber höchstens dreimal selbst gewickelt, und auch dann nur auf Guadalupes ausdrückliche Anweisung. Tatsächlich hatte Araceli nie viel mit Kindern am Hut gehabt; sie waren ein Mysterium, das sie gar nicht genauer ergründen wollte, vor allem die Jungen der Torres-Thompsons mit ihren Kampfschreien und diesen elektronischen Klangeffekten, die sie mit ihren Lippen und Wangen nachahmten.
    Ein kleines Mädchen jedoch war etwas anderes. Samantha hatte ein Leben, das jede mexikanische Mutter sich für ihre Tochter gewünscht hätte. Ihre Garderobe aus Bodys, Lätzchen, T-Shirts und Schlafanzügen umfasste eine erstaunliche Bandbreite an Rosa- und Lilatönen, ihr Kleiderschrank quoll über von winzigen Sommerkleidchen und Outfits wie dem heutigen, einer Art Trainingsanzug aus rubinrotem Nickistoff. In El Distrito Federal hätten diese Sachen ein Vermögen gekostet; wenn man sie überhaupt würde auftreiben können. Sanft berührte Araceli eine der blasslila Spangen in Samanthas dünnen Haarsträhnen, und das Mädchen schloss seine kleine Hand um einen ihrer Finger. Einen Augenblick später gurrte Araceli zur eigenen Überraschung kindliche Laute. »¡Qué linda! ¡Qué bonita la niña!« Samantha lächelte sie an, und das kam so unerwartet, dass Araceli sich vorbeugte und das Baby auf die Wange küsste. Vielleicht sollte ich so was nicht tun.
    Araceli trug die Kleine im Kreis herum, während Maureen mithilfe einer Schüssel eine kleine Sammlung von Römerhelmen aus Pappmaschee formte. Wenn sie so weitermachte, würde sie einen ganzen Zug römischer Kindersoldaten ausrüsten können. Die jefa ließ die Helme trocknen und warf gelegentlich einen heimlichen Blick durchs Spielzimmerfenster auf den Garten hinterm Haus. Pepe war fort, und die Pflanzen trauerten ihm mindestens so inbrünstig nach wie Araceli. Die durchsichtigen Stängel der rizinusblättrigen Begonie verbeugten sich tief zu Ehren des entlassenen Gärtners, sie küssten die trockene Erde, auf der Pepe gegangen war, und die Blütensterne, jedes blassrosa Blütenblatt so groß wie Samanthas Daumennagel, verdorrten und verwelkten und wurden von jedem Windhauch weiter abgeschüttelt. Wie Ascheflocken schwebten die papierdünnen Blütenblätter in der heiß aufsteigenden Luft aufwärts, weg vom Garten und von dem Fenster, wo zwei Frauen und ein kleines Mädchen ihnen hinterherschauten.
    Später am Nachmittag tauschte Maureen die Yogahose und den Malerkittel gegen eine Jeans und ein weites Stanford-T-Shirt, das Scott gehörte. Sie setzte einen breitkrempigen
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