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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren
Autoren: Héctor Tobar
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körperliche Reinheit aufzugeben, die das Stillen mit sich brachte. Wenn sie bisher noch nicht mal der Versuchung nachgegeben hatte, einen Schuss Tequila zu trinken – was sie allerdings bald tun würde –, wieso sollte sie dann eine Flasche öffnen, die mit einem Totenkopf und dem unheilvollen Logo einer großen Ölgesellschaft versehen war?
    Vom Himmel fallender Staub und Schmutz brachten ihren kleinen Regenwald langsam um; sie würde eingreifen und sich darum kümmern müssen, sonst würde er in der trockenen Luft verdorren, und bei diesem Gedanken spürte sie einen Anflug von Angst, eine ganz kurze Atemnot. Es geht nicht bloß um den Rasen und die Pflanzen, oder? Maureen Thompson hatte einen großen Teil ihrer Jugend damit verbracht, gewisse Erinnerungen abzuschütteln, die mit einer sehr gewöhnlichen, von Zuckerahorn beschatteten Straße in Missouri zusammenhingen, wo die Blätter sich im Oktober färbten und es jeden Winter einige Tage schneite, wo alles, was auf den Veranden liegen blieb, verwitterte. Diese Erinnerungen waren jetzt sehr weit weg: gut verstaut in zwei Kisten auf dem Grund eines ihrer Wandschränke, halb verborgen hinter den vielen anderen Kisten voller Erinnerungen an ihre Ankunft in Kalifornien und ihr Leben mit Scott. Hier auf ihrem Hügel, in dieser Straße namens Paseo Linda Bonita, folgte ein Tag dem anderen in angenehm vorhersehbarem Rhythmus: Mahlzeiten wurden zubereitet, Kinder morgens angezogen, abends ins Bett gebracht, dazwischen versank die Sonne flammend im Pazifik, ein tägliches und beinahe lachhaft prachtvolles Naturschauspiel. In ihrem Universum war alles gut, doch manchmal überkam sie ohne erkennbaren Grund ein vages und trotzdem durchdringendes Gefühl von drohendem Verlust und bevorstehender Dunkelheit. Das geschah meistens, wenn ihre beiden Jungen in der Schule waren, wenn Maureen in ihrem Schlafzimmer stand und deutlich spürte, dass ihr etwas fehlte, ein Gefühl, das sie von einem Moment zum nächsten vollkommen einnehmen konnte; beispielsweise auch wenn sie nackt im Badezimmer stand, das nasse Haar in ein Handtuch gewickelt, wenn sie im Spiegel einen Blick auf ihren Körper warf und seine Verletzlichkeit wahrnahm, seine Sterblichkeit, und sich fragte, ob sie sich zu viel zugemutet hatte, indem sie drei Kinder zur Welt brachte.
    Aber nein, jetzt war es schon wieder vorbei. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und ans Panoramafenster, wo das Drama im Vorgarten zu einem Ende gekommen war und der König des einundzwanzigsten Jahrhunderts das Gras auf dem Gehweg zusammenfegte.
    In seiner Kindheit in South Whittier hatte Scott Torres den Rasen selbst gemäht, und als er das Gerät nun über den Abhang seines aufgeblähten Anwesens in den Laguna Rancho Estates schob, versuchte er sich an die Lehren zu erinnern, die sein Vater ihm vor zwei Jahrzehnten mitgegeben hatte, in einer Sackgasse namens Safari Drive, wo alle Rasenflächen zusammen etwa ein Viertel so groß gewesen waren wie die, die er gerade gemäht hatte. Versuch das Ding gleichmäßig zu bewegen, überprüf die Höheneinstellung der Räder, halte Ausschau nach kleinen Gegenständen auf dem Rasen, weil der Mäher sie sonst erwischt und die Klingen sie wie Kugeln herumfliegen lassen. Sein Vater hatte ihm fürs Rasenmähen fünf Dollar die Woche gezahlt, das erste Geld, das er im Leben verdiente. Die ungewöhnlichen Ereignisse im Haus der Torres-Thompsons und die ungewöhnlichen Ereignisse der letzten paar Tage hatten auch Scott nachdenklich gemacht, das Ausscheiden zweier Mitglieder ihres Angestelltenteams, die saisonalen Veränderungen, die der Juni wie jedes Jahr mit sich brachte. Die Sommerferien standen bevor, und gestern hatten sie den letzten Schultag der Jungen in der dritten und fünften Klasse gefeiert, die großen Mappen voller fertiger Hausarbeiten und übergroßer Bastelprojekte, zu denen ihre Mutter Ooh und Aah gesagt hatte.
    Scott sog den Duft von frisch gemähtem Gras ein, was die Erinnerung an seine Haushaltspflichten als Teenager sehr lebendig werden ließ. Der Olivenbaum vor dem Zuhause der Torres in South Whittier fiel ihm ein und viele andere Dinge, die nichts mit Rasen oder Rasenmähern zu tun hatten, wie die Arbeit an seinem Volkswagen – seinem ersten Auto – in der Auffahrt oder die flaumweichen kastanienbraunen Haare und die Ditto-Jeans des etwas pummeligen Mädchens von gegenüber. Wie hieß sie noch? Nadine . Der Olivenbaum hatte schwarze Früchte auf den Bürgersteig fallen lassen, und zu
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