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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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schon aufbrechen, als Annabel die Hand auf seinen Arm legte.
    »Danke, Jack.«
    Sie wusste, dass er nicht zufällig auf diesen Hilferuf reagiert hatte. Er war zugegen, als der Parkwächter anrief, und hatte sich auf die Gelegenheit gestürzt – für sie.
    Er schenkte seiner Kollegin ein aufrichtiges Lächeln und ging. Er war der Einzige im ganzen Revier, der die fixe Idee seiner Kollegin verstand und unterstützte. Er war der Einzige, der dachte, dass es ihr eher gut tat, dass es ihr ein Bedürfnis war und dass ihr jede Ermittlung in Sachen Entführung oder Verschwinden einer Person, an der sie arbeitete, irgendwie Hoffnung machte.
    Eine Hoffnung, die sie seit einem Jahr durchhalten ließ.

4
    Sie hatten im Juni geheiratet, achtzehn Monate später war Brady verschwunden. Eines Morgens war sie zur Arbeit gegangen, und am Abend war er nicht mehr da. Keine Nachricht, kein Brief, er war einfach fort. Es fehlten nur sein Portemonnaie und seine Jacke, alles andere war an seinem Platz. Brady war Reporter und arbeitete vorwiegend im Ausland, oft für den National Geographie. Aber an diesem 17. Dezember 2000 war kein Auslandsaufenthalt vorgesehen, erst wieder in zwei Monaten. Sie wollten Weihnachten zusammen auf den Malediven verbringen, weit entfernt von der extremen Hektik der USA. Nur widerwillig hatte Annabel ihre Wahl anhand der Reisekataloge getroffen, durch die ihr klar geworden war, wie doppelbödig die Moral des Geldes war. Die Ferien kamen ihr plötzlich wie ein Knochen vor, den man einem Hund vorwirft, um seine Ruhe zu haben und sicher zu sein, dass er zurückkommt und weiterhin brav gehorcht. Sie würde aufbrechen, zurückkehren und lange arbeiten müssen, bis sie sich eines Tages die nächste Reise leisten könnte. Das Leben war nicht gratis, bei der Geburt war die erste Rechnung fällig, und man müsste die folgenden Rechnungen zahlen, um das Verfallsdatum so lange wie möglich hinauszuzögern. In dieser Welt der freien Menschen konnte niemand über sich selbst bestimmen. Mit dieser Philosophie hatte sich Annabel von der Idee verabschiedet, Kinder bekommen zu wollen. Sie liebte ihren Mann und ihre Arbeit, der Rest war nur noch Literatur. Seit ihrer frühen Jugend hatte sie das Sprichwort von Chesterton verinnerlicht: »Die Literatur ist ein Luxus, die Fiktion eine Notwendigkeit.« Sie hatte es auf ihr eigenes Leben übertragen, mit zwei Wahlmöglichkeiten: das, was in den Bereich Luxus, und das, was in den Bereich Fiktion fiel – ihre Energiequelle. So lehnte sie ein Kind ab, das war ihr Luxus, die Verantwortung, es in diesen Dschungel zu stürzen, und zog es vor, sich mit Träumen von der Liebe zu umgeben und mit seltenen Augenblicken des Vergnügens. Luxus und Fiktion. Der Rest versank in einem berauschenden beruflichen Alltag.
    Ja, das war das ganze Paradoxon Annabel. Detective aus Leidenschaft, Systemgegnerin aus Überzeugung und Freiheitsliebe. Sie wurde sich bewusst, dass sie vor allem über das Elend der anderen weinte, über all diese Tränen, deren Geschmack sie nur vage erahnen konnte.
    Dann war die Reihe an ihr.
    An einem einzigen Tag geriet alles ins Wanken. Ein flüchtiger Kuss, der sich in den folgenden Wochen in tiefe Wehmut verwandeln würde – eine Erinnerung, durchsetzt von Bedauern.
    An diesem Tag hatte Brady vorgehabt, verschiedene Filme abzuholen, um sie für seine letzte Reportage über die Architektur von Gaudi zu entwickeln. Unterwegs hatte er etwas zum Abendessen kaufen wollen, kein gefährlicher Tag also. Doch als sie abends die Wohnungstür öffnete, stand sie vor einer unglaublichen grenzenlosen Leere, einer grundlosen Abwesenheit. Und vor einer Sorge, die sich in Angst verwandelte.
    Er war verschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.
    In den folgenden Wochen, und dann Monaten, beschäftigten sie alle möglichen Fragen. Immer wieder sagte sie sich, dass er entführt worden sein musste, und fragte sich doch, ob er nicht ganz einfach beschlossen hatte, sich aus ihrem gemeinsamen Leben zu stehlen. Manche Männer handeln auf diese Weise mit einer – wenn man so sagen kann – romantischen Feigheit, die vergangener Jahrhunderte würdig gewesen wäre, außer es handelte sich ganz einfach um modernen Egoismus. Als sie zu zögern begann, was sie vorziehen sollte, Entführung oder Flucht aus dem ehelichen Hafen, fing sie eine Psychotherapie an, die acht Monate dauerte.
    Ein Jahr später war Brady noch immer nicht gefunden worden, auf seinen persönlichen Konten hatte keine
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