Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
Vom Netzwerk:
den Ernst der Lage erst richtig, als sie das emsige Treiben in der Eingangshalle bemerkte.
    Die Villa, in der Büros untergebracht waren, war gewöhnlich vom späten Nachmittag bis zum frühen Morgen menschenleer. In dieser Nacht gegen halb eins aber lief ein halbes Dutzend Männer in Parkwächteruniformen nervös diskutierend auf und ab. Die meisten wärmten sich die Hände an Bechern mit dampfendem Kaffee.
    Als Annabel eintrat, kam einer von ihnen, ein großer Blonder mit sorgfältig gestutztem Schnauzbart, auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.
    »Detective … äh, O’Donnel?«
    Annabel nickte.
    »Ich bin Stanley Briggs, ich habe die Frau gefunden«, erklärte er ein wenig zu stolz. »Folgen Sie mir, Ihr Kollege wartet im ersten Stock.«
    Er führte Annabel eine steile, schlecht beleuchtete Treppe hinauf.
    »Entschuldigen Sie meine Frage«, sagte die junge Frau in möglichst freundschaftlichem Tonfall, »aber seit wann gibt es Aufseher wie Sie in diesem Park? Es ist zwar eine Spezialbrigade für die Beaufsichtigung abgestellt, aber meines Wissens patrouilliert sie nicht nachts.«
    »Und genau deshalb sind wir da, Miss O’Donnel.«
    »Misses.«
    »Ach, Entschuldigung. Wir gehören zur Prospect Park Alliance und sind für die Pflege der Anlage zuständig. Seit einigen Monaten kreuzen hier nachts Jugendbanden auf, die sich bekriegen und immer wieder Verwüstungen anrichten. Deshalb bilden wir Gruppen von Freiwilligen, um das Gelände zu überwachen. Das soll keine Kritik an der Polizei sein, die kann schließlich nicht überall Streife gehen. Ich weiß, dass Sie nachts in der 3rd Avenue genug zu tun haben, und deshalb haben wir das selbst übernommen.«
    Annabel zog in Briggs Rücken die Brauen hoch. Guter Wille war sicher lobenswert, aber manchmal auch eine Quelle von Problemen, vor allem für die Polizei.
    »Da wären wir«, sagte der Parkwächter und stieß eine Tür auf.
    Bevor sie über die Schwelle trat, streckte Annabel ihm die Hand entgegen, dankte ihm und nötigte ihn auf diese Weise, sie ohne weitere Formalitäten und Erklärungen ihre Arbeit tun zu lassen. Damit schloss sie die Tür hinter sich.
    Jack Thayer saß auf einem Stuhl. Die Erschöpfung betonte seine schon unter normalen Umständen recht tiefen Falten im Gesicht. Er war eher klein, nervös, um die vierzig, trug das grau melierte Haar kurz und stets denselben zerknitterten Anzug. Die Ähnlichkeit mit dem Prototyp des Detective beschränkte sich aber auf diese Attribute. Er rauchte nicht, trank keinen Kaffee und war nicht ungehobelt. Er war ein Kämpfer, ein Energiebündel, aber auch ein Denker. Begeistert von Poesie und Theater, trug er stets ein Büchlein in seiner Tasche, um in Augenblicken des Wartens die Zeit totzuschlagen. Er kritzelte gelegentlich ein paar Gedanken in ein Notizbuch oder auf die Rückseite der Kopie einer Dienstanweisung und bedachte seine Kollegen gelegentlich mit philosophischen Ratschlägen. Er war die tröstende Schulter und derjenige, der Tränen trocknete. Jack war für Annabel eine Art Marc Aurel für den Hausgebrauch, wenngleich er es nicht auf dieselbe Schulterbreite wie der Kaiser brachte. Darauf pflegte er zu erwidern, dass die »hellenische Disziplin« bei ihm die unerfreuliche Neigung habe, das Gleichgewicht zwischen Geist und Körper zum Nachteil des Letzteren zu beeinträchtigen, obwohl er bei guter Gesundheit sei. Das war die Art von Bemerkung, die Annabel gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit so gefallen hatte. Während der letzten vier Jahre waren die täglichen acht Stunden an der Seite von Jack Thayer so schnell vergangen wie ein lebhaftes Gespräch. Sie vertrauten sich manchmal Dinge an, die sie ihren Nächsten lieber verschwiegen, und suchten gemeinsam Lösungen für die Probleme des anderen.
    Seine grauen Augen richteten sich auf Annabel. Sie glaubte, Erleichterung darin zu lesen. Er erhob sich und ließ einen Band von Tennessee Williams in seiner Jackentasche verschwinden.
    »Tut mir Leid, dich so spät zu stören. Als ich von dem Anruf in der Zentrale erfuhr, bin ich auf schnellstem Wege hergekommen. Erst beim Anblick dieser Frau habe ich an dich gedacht.«
    Das klang so, als hätte er sich auf diesen Kommentar vorbereitet. Er deutete mit dem Kinn zum Ende des Raums hinter Annabel.
    Auf einem Bett ausgestreckt, ein menschlicher Körper, eingehüllt in eine Decke, den Rücken der Wand zugekehrt. Die Lider waren geschlossen, und die Stirn legte sich jedes Mal in Falten, wenn das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher