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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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Der Mann um die vierzig scheint oft zu Scherzen aufgelegt, ja, er spielt sogar den Clown, was bei seiner Partnerin herzliches Lachen auslöst.
    Nachdem der Besucher so weit in die Intimsphäre vorgedrungen ist, kann er seinen Rundgang auch noch ein wenig fortsetzen, und das leise Klappern, das aus der Tür zu seiner Rechten dringt, scheint ein geeignetes Ziel. Wenn er sie sanft aufdrückt, blickt er in eine lange, schmale, ganz und gar nicht funktionelle Küche, da die Tiefe der Möbel nur einen engen Gang freilässt.
    Was ihm sofort ins Auge sticht, ist die Waffe und ihr Halfter, die auf der Arbeitsplatte liegen. Eine 9-mm-Beretta.
    Am anderen Ende des Raumes steht am Herd die Frau, die er auf den Fotos gesehen hat, und rührt mit einem Holzlöffel in einem Topf. Auf den Fotos sieht sie aus wie Angela Basset, doch in Wirklichkeit ähnelt sie eher Angelina Jolie, nur dass ihre Haut etwas dunkler ist. Ganz in die Lektüre von Salingers Der Fänger im Roggen vertieft, spürt sie nicht den warmen Dampf, der an ihrer Hand aufsteigt. Trotz des formlosen Pullovers, der über ihre Hose fällt, ahnt man ihren athletischen Körperbau. Sie trägt Leinenschuhe mit geflochtener Sohle.
    Aus dieser Entfernung würde man sie für knapp über dreißig halten. Das zu dünnen Zöpfen geflochtene Haar ist jetzt mit einem chinesischen Stäbchen zu einem wirren Knoten zusammengesteckt. Die Lippen sind voll und blass rosa, die Nase ist am Ansatz schmal, dann etwas breiter, und die großen Augen sind schwarz wie zwei endlos tiefe Brunnen. Sie liest konzentriert und hingerissen. Sie legt den Holzlöffel beiseite und blättert die Seite so schnell um, dass sie sie ein wenig einreißt. Ihr Name ist Annabel O’Donnel.
    Seit vier Jahren ist sie Detective im 78. Revier von Brooklyn, und heute Abend, nach einem anstrengenden Tag, will sie ihre wohlverdiente Ruhe genießen. Aber all das ist vielleicht zu viel für einen neugierigen Besucher, und so könnte er durch das Fenster am Ende der Küche, ebenjenes, an das sich Annabel lehnt und von dem aus man die Südspitze von Manhattan mit ihren funkelnden Lichtern überblickt, in der Nacht verschwinden.
    Annabel verspeiste ihr aus Spaghetti bestehendes Abendessen, weiter in ihr Buch vertieft, auf dem bunten Sofa bei leiser Hintergrundmusik. Es war fast Mitternacht, doch sie war trotz ihrer körperlichen Erschöpfung noch hellwach. Seite für Seite. Unersättlich. Sie war von klein auf ein Büchernarr. In einer Ecke des Wohnzimmers erhoben sich mehrere wacklige Stapel von zum Teil vergilbten Büchern – Papiertürme, die jeden Augenblick umstürzen konnten. Annabel hatte nie ein Regal gekauft, sie liebte den staubigen Charme dieser Stapel, die im Laufe der Jahre immer höher wurden. Ebenso hielt sie es mit den Zeitschriften, sie warf nichts weg und stopfte die vielen Magazine, die sie abonniert hatte, in eine Weidentruhe. Eigentlich wurde alles, was ihr in die Hände kam, nach Gebrauch sofort in einer Schublade oder Schachtel verstaut, da sie sich von nichts trennen konnte, und sei es auch ein missglücktes Foto oder eine Kinokarte, sofern sie an einen angenehmen Abend erinnert wurde. Doch ihre Wohnung war hell und nur spärlich möbliert, und so konnte die junge Frau ihre kleinen Manien vor den Blicken eines flüchtigen Besuchers verbergen. Und was für ihre Wohnung galt, galt auch für sie selbst, denn in ihrem Innern hatten sich Erfahrungen und Gefühle angehäuft, die auf eine heftige Erschütterung warteten, um eines Tages einzustürzen, sofern das überhaupt noch möglich war.
    Nur die Lampe neben dem Sofa war eingeschaltet – der Schirm aus Kamelhaut gefertigt, die der Mann auf den Fotos zwei Jahre zuvor mitgebracht hatte. Annabel blätterte Seite für Seite um, sie hatte sich inzwischen hingelegt, bis schließlich die letzte ihr Geheimnis und ihre Schlussfolgerungen preisgegeben hatte. Sie blieb noch eine Weile liegen, dachte nach und bewunderte dabei die jetzt ihres Wahrzeichens beraubte Skyline von Manhattan. Am Fuß der Wolkenkratzer verschmolzen Hudson und East River zu einem gewaltigen schwarzen Fleck.
    Das Telefon neben ihr schrillte, Annabel zuckte zusammen.
    Um diese Zeit bekam sie zu Hause nur selten Anrufe. Wenn sie im Dienst war, erreichte man sie über ihren Piepser oder ihr Handy. Sie streckte die Hand aus und hob ab.
    »Annabel, ich bin’s, Jack.«
    »Jack?«
    Jack Thayer war ihr Teamkollege, der im Laufe der Zeit etwas mehr, nämlich ein Freund, ein Vertrauter geworden war.
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