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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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Angst und Anstrengung vermischte sich und lief über ihre kalte Haut. Sie hastete einen kleinen, mit toten Zweigen bedeckten Pfad hinauf und bog nach rechts ab.
    Schnell! , schrie sie, verzweifelt, am Ende ihrer Kräfte.
    Ihr Körper bäumte sich auf, von plötzlichen Krämpfen geschüttelt, und überzog sich, als ihre Glieder zu zittern begannen, von Kopf bis Fuß mit einer Gänsehaut.
    Der Schwindel, der sie seit dem Beginn ihrer Flucht quälte, nahm zu, bis er ein unerträgliches Maß erreichte. Die Woge des Grauens, die darauf folgte, ließ sie das Bewusstsein verlieren. Sie strauchelte, stürzte über die Wegbegrenzung und rutschte zwischen den Bäumen hindurch den Abhang hinunter.
    Zehn Meter tiefer blieb ihr Körper im Schilf liegen.
    Die Arme um die Brust geschlungen, die Beine angezogen, ruhte sie dort wie eine vergessene Madonna unter dem unerschütterlichen Blick des Mondes, der sich im großen See spiegelte.
    Noch atmete sie.

2
    In Brooklyn Heights gibt es eine Promenade oberhalb der Bucht, einen dunklen Streifen aus Beton, über den Pärchen und ältere Menschen gerne flanieren. Sie ist gesäumt von schmalen Häusern mit verzierten Fassaden und vielen Fenstern, die in der Nacht leuchten. Auf einem der Dächer nimmt man einen sonderbaren Schimmer wahr.
    Es ist eine Kuppel aus Glas, wie die einer Montgolfiere aus Licht, die aus ihrem Hangar ragt.
    Würde jemand auf das Dach steigen, fände er zu seiner Verwunderung ein paar Sonnenblumenkerne für die Vögel vor.
    Sein Blick könnte über das Parkett vier Meter unter der Kuppel bis hin zu einem Sofa wandern, das mit einem bunt gemusterten Plaid aus den Anden bedeckt ist.
    Es ist ein gemütliches Wohnzimmer, ein schützender Kokon, in dem sich der Besucher wohl fühlen würde.
    Auf dem Couchtisch steht ein Räucherkegel, von dem sich ein duftender Rauchfaden in einem fantastisch wogenden Bauchtanz in die Luft windet. Fasziniert von der behaglichen Atmosphäre, könnte sich ein eventueller Besucher kaum dem Wunsch entziehen, die Örtlichkeiten weiter zu erkunden. In diesem kurzen Augenblick des Zögerns würde er vermutlich das große Schaukelpferd entdecken. Ein Pferd aus Teakholz, dessen tadelloser Zustand beweist, dass nie ein Kind darauf gesessen hat.
    Der Besucher braucht nur drei Schritte zu tun, um zu einer Wand aus mattroten Ziegelsteinen zu gelangen, die in das warme Licht von drei Lampen getaucht ist. An Ketten hängen vier Kanope-Gefäße, ihres grausigen Inhalts entleert und mit künstlichem Efeu dekoriert, dessen üppige Triebe sich nach unten ranken. Neben dieser diskreten Hommage an einen Pharao wie auch an Bacchus zeigt eine Lithographie die Hängenden Gärten von Babylon. Darunter steht in steiler Schrift geschrieben: Für Annabel, meine paradiesische Muse, ein kleiner Garten für meinen Schatz.
    Beim Lesen eines so intimen Geständnisses mag der Neugierige versucht sein, sich abzuwenden und durch die Kuppel davonzufliegen, doch beim Umdrehen entdeckt er die andere Wand. Auch sie aus rotem Ziegelstein, geschmückt mit zwei archaischen afrikanischen Masken. Kein erkennbarer Ausdruck – nicht wirklich Augen oder ein Mund, eher Öffnungen, um die Emotionen des Trägers erahnen zu lassen. Und zwischen den beiden bemalten Stücken eine Vielzahl von Fotos: Hunderte von festgehaltenen Augenblicken – eingefangene Gefühle, die dann ausgeschnitten und zu einer Kollage zusammengefügt wurden.
    Nun hat die Neugier des Besuchers obsiegt, und er geht durch den Salon. Vorbei an Sofa und Couchtisch über einen Teppich aus feiner Wolle, und sicherlich bemerkt er die Stereoanlage. Jetzt hört er zum ersten Mal die Musik. Leise, sanft und beinahe irreal. Ein harmonischer Strom, vielleicht Sade oder sinnlicher Jazz. Doch unerschütterlich folgt er seinem Vorhaben und nähert sich den Fotos.
    Ein Großteil zeigt die unterschiedlichsten exotischsten Landschaften und Orte. Schnee, Sonne, Sand, Sturm, Tempel, Kirchen, Petra, Kappadokien. Auf dieser zweidimensionalen Reise um die Welt sind hier und dort bedachtsam ein paar Gesichter eingestreut. Immer wieder taucht dasselbe Paar auf, mal Hand in Hand, mal in inniger Umarmung. Ein Mann mit langem dunklem Haar, nicht sonderlich attraktiv, aber mit einem charmanten Lächeln und freundlichem Blick. An seiner Seite eine Frau, die einige Jahre jünger scheint. Die dunkle Hautfarbe und das lange schwarze, zu dünnen Zöpfen geflochtene Haar verraten ihre mehr oder weniger in der Ferne liegende afrikanische Abstammung.
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