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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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Doch er rief Annabel O’Donnel nur äußerst selten zu Hause an, und wenn, dann nie so spät.
    »Habe ich dich geweckt?«, fragte er, was allerdings nicht wie eine Entschuldigung klang.
    Vielmehr hatte seine Stimme einen gebieterischen, dringlichen Unterton, was auf etwas Ernstes schließen ließ.
    »Nein, aber ich bin nicht mehr im Dienst. Heute Abend nicht und schon gar nicht heute Nacht. Und du übrigens auch nicht«, erklärte sie, da sie einen beruflichen Anlass vermutete.
    »Hör zu, ich bin etwas länger geblieben, um den Jungs hier Gesellschaft zu leisten, und … man … Ich bin auf eine wichtige Sache gestoßen. Ich brauche dich.«
    »Was? Einfach so, um diese Zeit? Sag mal, spinnst du, Jack! Ich …«
    »Man hat im Prospect Park eine Frau gefunden«, unterbrach er sie, »sie war nackt …«
    Annabel wartete ab – sie befürchtete das Schlimmste.
    »Du musst kommen, sie braucht weibliche Zuwendung«, erklärte er. »Sie steht unter Schock …«
    »Jack, es gibt heute Abend noch andere weibliche Detectives in unserem Bezirk, warum ich?«
    Jack schwieg einen Augenblick. Detective Thayer, bekannt dafür, keine Sekunde Zeit zu verlieren und fest mit beiden Beinen im Leben zu stehen, zögerte.
    »Es könnte sein, dass sie entführt wurde«, sagte er schließlich.
    Annabels Herz krampfte sich zusammen. Sie schloss die Augen. Die magischen Worte: entführt, verschwunden. Worte, die das gesamte 78. Revier nicht unüberlegt in Gegenwart der jungen Frau aussprach. Auch wenn sie keine der beiden Situationen selbst durchlebt hatte, weckten sie jedes Mal einen dumpfen Schmerz in ihr.
    Bevor sich das Unwohlsein ausbreiten konnte, schob sie all das beiseite und fragte: »Unter welchen Umständen?«
    Jack Thayer atmete tief durch, so als wolle er sich Mut machen, ehe er begann: »Einer der Parkwächter machte am See seine Runde, als er einen Anruf bekam. Am frühen Abend hatte sich ein Unfall ereignet, verursacht von … nach Aussagen der Zeugen von ›einer nackten Frau, die in Panik durch die Straßen lief‹. Sie verschwand an der Pergola der Parkside Avenue im südlichen Teil des Parks. Seine Kollegen haben den Parkwächter gebeten, sich umzusehen, ohne die Geschichte wirklich zu glauben. Tatsache ist, dass er sie, halb im Delirium, gefunden hat.«
    Er machte erneut eine Pause und suchte nach Worten.
    »Ich denke, du solltest kommen«, sagte er schließlich. »Der Parkwächter, der sie gefunden hat, glaubt, dass sie sich das selbst zugefügt hat, dass es sich um eine Verrückte handelt. Aber mir scheint das unmöglich; jemand hat sie angegriffen.«
    »Was zugefügt? Was hat sie, Jack?«
    Wieder schien er zu zögern.
    »Nicht am Telefon. Du musst es selbst sehen. Komm her, ich bin in der Litchfield Villa bei den Parkwächtern.«
    Annabel nahm augenblicklich ihre Waffe an sich, zog einen noch wärmeren Pullover über, griff nach ihrer Bomberjacke und lief aus der Wohnung. Wie elektrisiert von der Nachricht an diesem scheinbar so friedlichen Abend wurde ihr fast schwindelig, während sie zu ihrem Wagen eilte.
    Als sie am Steuer saß, gönnte sie sich, die Hände auf das Lenkrad gelegt, zwei Minuten Zeit, um tief durchzuatmen, dann drehte sie den Zündschlüssel um.
    Im trüben Schein des Mondes über Brooklyn kämpfte sich Annabel durch den Stadtdschungel.

3
    Die Litchfield Villa im Prospect Park glich an diesem Abend einem im Dunkel verlorenen Schiff. Ihre hohen Fenster leuchteten zwischen den Eichen und Ahornbäumen, die den schmalen, gewundenen Weg zu dem kleinen Parkplatz säumten. Die weiß gekrönten Türme des Backsteinbaus beherrschten die waldige Landschaft und wachten aufmerksam über die zweihundert Hektar große Grünfläche mitten in Brooklyn.
    Annabel kannte das Gebäude. Da der Prospect Park 1993 in den Zuständigkeitsbereich des 78. Reviers gefallen war, hatte man sie schon oft wegen tätlicher Übergriffe hierher gerufen. Allerdings war sie noch nie nachts im Park gewesen, und das, was tagsüber ein Prachtbau im Stil italienischer Palazzi war, nahm sich zu dieser Stunde wie eine finstere, unheimliche Festung aus.
    Sie schloss die Tür ihres BMW-Geländewagens und steuerte auf den Eingang zu. Flaggen, halb verschleiert durch die Dunkelheit, flatterten träge hoch oben an den Fahnenstangen. Sie erinnerten Annabel an die Flügel riesiger Fledermäuse. Na, großartig, sagte sie sich. Fällt dir nichts Besseres ein, um dein konfuses Hirn zu beschäftigen?
    Sie erklomm die Stufen der Freitreppe und begriff
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