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In Blut geschrieben

In Blut geschrieben

Titel: In Blut geschrieben
Autoren: Maxime Chattam
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Sessel neben ihr Bett.«
    Ihr schneidender Ton duldete keinen Widerspruch. Der Arzt zuckte mit den Schultern und verschwand in einem der Behandlungszimmer.
    *
    Die Jalousie bestand aus schmalen Plastiklamellen, die schon viele, viele Male verbogen worden waren und einem verrenkten Skelett ähnelten. Die Wintersonne drang durch die Ritzen und liebkoste das Bett mit ihren goldenen Strahlen.
    Die Frau, deren Kopf mit einem Verband umwickelt war, hatte gegen sechs Uhr morgens ein erstes Mal die Augen aufgeschlagen und war dann wieder eingeschlafen. Um acht und um neun Uhr dasselbe, bis sie schließlich gegen halb elf richtig aufwachte. Annabel dämmerte zwischen jedem Aufschrecken vor sich hin und ergriff ihre Hand, wenn sich ihre Blicke begegneten. Die junge Unbekannte sagte kein Wort, sie weinte, bevor sie sich wieder verschloss. Annabel sah einen weiteren Arzt eintreten, zwei Krankenschwestern und einen Psychologen, der sie höflich, aber bestimmt bat zu gehen.
    In den folgenden Stunden lehnte sie an dem Kaffeeautomaten und aß gegen Mittag ein in Zellophan verpacktes Sandwich. Während all dieser Zeit ging sie die bruchstückhaften Informationen, über die sie verfügte, immer wieder durch. Sexuelle Übergriffe im Prospect Park waren selten und bislang niemals mit solcher Grausamkeit verbunden gewesen. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie musste so schnell wie möglich mit dieser Frau sprechen, ihr Fragen zu ihrem Angreifer oder ihren Angreifern stellen.
    Und diese Tätowierung war so rätselhaft.
    Ohne dieses Element wäre sie vielleicht weniger angespannt gewesen, doch etwas an diesen Ziffern machte sie nervös. Das ist unheimlich, dachte sie. So geht man nicht mit einem Opfer um, wenn man es vergewaltigen will. Ja, aber man skalpiert es auch nicht!
    Ein Großteil der Vergewaltigungen, mit denen das 78. Revier zu tun hatte, betraf häusliche Gewalttaten oder solche, die von Unbekannten begangen wurden. Im ersten Fall glaubte ein betrunkener oder brutaler Ehemann, seine Frau oder seine Tochter nach Belieben missbrauchen zu können. Im zweiten Fall wurde eine Frau von einem Fremden, manchmal von einer ganzen Gruppe junger Männer angegriffen, die sich nach getaner Tat aus dem Staub machten. Man ist geneigt zu glauben, der Vergewaltiger würde die sexuelle Befriedigung in dem Akt suchen, doch im Allgemeinen ist das eine sekundäre Motivation. Den meisten von ihnen geht es vorrangig um die Macht, die sie ausüben, um das Grauen und die Demütigung, die sie ihrem Opfer zufügen – das ist die eigentliche Idee, von der sie beherrscht sind. In seltenen Fällen kann das bis zum Mord führen.
    Die Dossiers, die Annabel kannte, waren einfach: ein blitzartiger Überfall, dann die Flucht des Täters.
    Doch niemals sperrte der Vergewaltiger seine Beute derart lange ein, um sie zu foltern und etwas für den Rest ihres Lebens auf ihren Körper zu schreiben!
    »Ein Irrer«, murmelte Annabel, »ein gottverdammter Irrer.«
    Gegen dreizehn Uhr, nachdem Captain Woodbine sie auf ihrem Handy angerufen, eine Zwischenbilanz gezogen und seine mangelnde Begeisterung darüber kundgetan hatte, dass Annabel den Fall übernahm, trat ein dritter Arzt in das Wartezimmer, in dem sie schließlich Platz genommen hatte, und kam auf sie zu. Er war um die fünfzig und machte einen frischeren Eindruck als die beiden anderen.
    »Ich bin Doktor Darton. Sie sind Detective O’Donnel, nehme ich an.«
    »Wie geht es ihr?«, fragte Annabel ohne Umschweife.
    »Körperlich hält sie durch, da sehe ich keine Gefahr. Sie ist noch etwas benebelt wegen der Drogen, die sie genommen hat. Die Verletzung am Kopf wurde versorgt, doch ihr Sprachvermögen ist noch gestört.«
    Annabel sprang auf.
    »Soll das heißen, sie kann nicht mehr sprechen?«
    »Ja, zumindest vorerst. Das ist mit Sicherheit auf den erlittenen Schock zurückzuführen. Der Psychologe ist bei ihr. Er hat sich vor Jahren auf die Auswirkungen des PTSD, des posttraumatischen Stresssymptoms, spezialisiert, ein sehr guter Mann, da haben wir Glück. Aber machen Sie sich keine Illusionen, das kann eine Ewigkeit dauern. Ich nehme an, Sie wollen sie verhören, wollen wissen, was ihr widerfahren ist?«
    »Ja. So schnell wie möglich.«
    Der Arzt verzog das Gesicht.
    »Leider ist das …«
    »Lassen Sie mich ihr ein paar Fragen stellen, vielleicht kann sie wenigstens nicken oder den Kopf schütteln. Ich habe eine Frau am Hals, die mit Drogen voll gepumpt, nackt und vergewaltigt aufgefunden wurde. Dann hat
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