Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Zeichen des himmlischen Baeren

Titel: Im Zeichen des himmlischen Baeren
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
überrascht stehen: Unter seinen Füßen fühlten sich die Steine warm an. Er suchte Kubichis Blick.
    Â»Das Feuer der Erde«, flüsterte sie.
    Der Wind, der heulend über die Bergflanke fegte, trug ihm einen seltsamen Geruch von Fäulnis entgegen. Schwefel, dachte er. Der Boden wurde immer wärmer; er spürte eine leichte Erschütterung und blieb abermals stehen.
    Â»Es ist nur der Pulsschlag des Berges«, sagte Kubichi. Sie lächelte, aber ihre Augen flackerten unruhig. Wortlos schritt er weiter.
    Plötzlich hielt Emekka an. Sie stand vor ihm in der Finsternis und deutete auf etwas, das er nicht sehen konnte.
    Â»Geh weiter voran und blicke dich um«, sprach sie. »Und dann befrage dein Herz.«
    Er warf einen Blick auf Kubichi, doch sie sah zu Boden. Ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe. Sie hat Angst, dachte er. Aber warum? Und er begriff, dass sie sich nicht vor dem fürchtete, was ihn oben auf dem Berg erwartete, sondern vor seiner Entscheidung.
    Er wandte sich ab und schritt den Hang hinauf. Aus dem Boden, der glatt und schmiegsam unter seinen Füßen lag, stieg ein kaum merkbares Pochen und Vibrieren. Er hatte das Gefühl, über einen warmen, lebendigen Körper zu wandern. Der Vulkan schlief, aber er atmete und regte sich wie ein schlummernder Gigant im Schlaf. Und eines Tages würde er erwachen … »Das wird das Ende der Aiu-Utari sein«, hatte Kubichi gesagt.
    Mit einem Mal blieb sein Blick an einem merkwürdigen Gerüst haften, das sich vor ihm in der Dunkelheit erhob. Er trat langsam darauf zu. Als er näher kam, sah er ein zweites Gerüst, dann ein drittes. Sie waren über den ganzen Vulkanhang verstreut bis zu dem senkrecht abfallenden, dunklen Kraterschlund. Alle hatten dieselbe merkwürdige Form, die zugleich an eine Bahre und an einen Nachen erinnerte.
    Susanoo zog sich langsam an den Steinen hoch. Eine nie gekannte Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Die Gerüste waren in kurzen Abständen voneinander aufgestellt. Vor jedem stand eine kleine Urne aus Ton. Ein fader, süßlicher Geruch mischte sich jetzt in die Schwefelausdünstung. Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft setzte Susanoo seinen Aufstieg fort. Jetzt war er nur noch wenige Schritte von dem ersten Gerüst entfernt. Er spürte, wie sein Herz hämmerte. Noch einen Schritt … dann noch einen … Ein Tuchfetzen hing aus dem Holzgeflecht. Das weiße Leinen war über und über mit dunklen Flecken bespritzt. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, beugte sich über das Gerüst und blickte hinein.
    Fünf Jahre war es jetzt her, dass er die Sperbermenschen gegen seine Heimatstadt Amôda angeführt hatte. Er hatte seine sterbende Schwester in den Armen gehalten. Er hatte den Tod vieler Menschen miterlebt oder selbst verursacht, hatte Folter und Verbannung ertragen und dennoch Haltung bewahrt. Jetzt aber wandte er sich ab, schweißüberströmt und schaudernd, und Tränen flossen aus seinen Augen. Er wusste nicht, wie lange er so dastand, unfähig, sich zu rühren. Dann hob er die Augen; genau über dem Krater stand das Sternbild des »himmlischen Bären« und in seiner Achse glühte wie eine weiße Fackel der Nordstern. Der Krieg ist das Werkzeug der Mächtigen, dachte er bitter; er ist aber zugleich auch Verneinung des Lebens und Missachtung der menschlichen Kreatur. Die Wahrzeichen des Kampfes sind weder Ehre noch Ruhm, sondern eingetrocknetes Blut, zerfleischte Körper, verstreute Knochen. Doch alle, die hier ruhen, starben mit der Gewissheit, in ihrer himmlischen Heimat den ewigen Frieden zu erlangen …
    Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Wenn er sich dem Ritual unterzog, wurde er Ainu. Dieser Schritt war nicht rückgängig zu machen. Nachdem er die Weihe unter dem himmlischen Bären empfangen und sein Blut mit dem einer Ainu-Frau vermischt hatte, würde er sich einem Gesetz beugen müssen, das in den ersten Zeiten der Menschheit seinen Ursprung nahm. Er erforschte sich; befragte Herz und Verstand, ob sie dazu willig waren, und beide gaben ihm die Antwort. Ein Seufzer hob seine Brust. Es gibt viele Wege, dachte er, die zu den Göttern führen … Er verließ die Totenstätte und stieg den Hang hinunter. Der eiskalte Herbstwind trocknete den Schweiß an seinem Körper, doch der Boden war warm unter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher