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Im Zeichen des himmlischen Baeren

Titel: Im Zeichen des himmlischen Baeren
Autoren: Federica de Cesco
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löste und von weither auf ihn herabblickte. Er spürte die Glut unter seinen nackten Füßen und spürte auch Schmerzen, aber sie waren zu unbedeutend, als dass er ihnen Beachtung geschenkt hätte …
    Als sie das Ende des Pfades erreicht hatten, sprach Emekka: »Kniet euch hin.«
    Sie ließen sich nieder. Die alte Frau zog einen kleinen, sichelförmigen Dolch aus ihrem Gürtel. Dann ergriff sie Susanoos linke und Kubichis rechte Hand und ritzte unter dem ersten Gelenk des Ringfingers die Haut leicht an. Sie presste die Wunden aufeinander und band die beiden Finger mit einem Reisstrohband zusammen. Wort für Wort betonend, sprach sie das Ritual: »Jetzt gibt es für euch keinen Regen mehr, denn ihr seid füreinander ein Obdach; es gibt keinen Winter mehr, denn ihr seid füreinander der Frühling; es gibt keine Dunkelheit mehr, denn ihr seid füreinander das Licht; es gibt keine Kälte mehr, denn ihr seid füreinander die Wärme; es gibt keinen Schmerz mehr, denn ihr seid füreinander der Trost …«
    Sie schwieg; ihr Atem ging gepresst. Dann, mit dumpfer, tiefer Stimme, sprach sie ihnen die heilige Eidesformel vor: »Schwört, dass ihr euren erstgestorbenen Gatten den heiligen Vögeln übergeben werdet, auf dass sie ihn zu den Göttern geleiten. Schwört, dass ihr eure Kinder und Kindeskinder in diesem Eid unterweisen werdet, auf dass jeder eurer Nachkommen, solange euer Geschlecht besteht, zur Todesstunde seine himmlische Heimat erblicken kann …«
    Leise und fest sagte Kubichi: »Ich schwöre es.«
    Sie spürte, wie ein leichter Schauer die Haut des Mannes neben ihr überzog, doch er sprach mit ruhiger Stimme: »Ich schwöre es.«
    Die Priesterin nahm Kubichi ihren mit Muscheln verzierten Gürtel ab, der unverheirateten Mädchen vorbehalten war, und ersetzte ihn durch eine schwarze Schärpe. Dann zog sie Blütenstaub aus einem kleinen Lederbeutel, streute ihn auf die gesenkten Köpfe und sprach: »Ihr habt zwei Körper, aber nun fließt in euren Adern das gleiche Blut, und ihr seid ein einziges Wesen.«
    Sie löste das Reisstrohband von ihren Fingern und wandte sich ab. Ihr Gesicht war plötzlich aschfahl geworden und ihre weißlichen Lider zuckten.
    Â»Und nun geht!«, stieß sie hervor.
    Kubichi erhob sich und berührte Susanoos Arm.
    Â»Komm!«
    Sie stiegen zum Kraterrand hinauf, ohne dass Emekka sich rührte oder ihnen einen Blick nachwarf. Ein Bär bewegte sich unter einem Felsvorsprung, aber Susanoo begann sich an, die Tiere zu gewöhnen, und beachtete ihn kaum. Wieder ergriff Kubichi seine Hand, um ihn in der Dunkelheit zu führen. Sie stiegen den Berg hinab. Der eiskalte Wind fegte über die Tannen, doch im Unterholz war es geschützt und warm. Susanoo breitete seinen Mantel auf dem Moos aus. Schweigend sanken sie nieder und hielten sich in den Armen. Der Wind rauschte wie die Brandung und die Bäume bewegten sich knarrend wie Schiffsmasten auf hoher See. Kubichi schmiegte das Gesicht an seinen Hals. Er fühlte den Duft ihres warmen, pulsierenden Lebens. Sie war zu ihm gekommen mit all jener unbestimmbaren Sanftheit und Wildheit der Natur, mit dem Geheimnis von nächtlichen Wäldern und smaragdgrünen Seen, von Nebel, Sonnenglanz und Sternenlicht, von duftenden Tannen und schwebenden Blütenzweigen, von regennasser Erde und glühendem Sand. Sie war alles, was er sah, hörte und fühlte. Sie war zugleich Traum und Wirklichkeit, Quelle, Erde und Glut. Sie wird nicht sterben wie jene, die ich da oben sah, dachte er, sie wird dahinschweben wie der Morgennebel, erlöschen wie ein Stern …
    Er schaute zurück auf alles, was er auf sich genommen hatte, und plötzlich senkte sich die Vorahnung über ihn wie eine schwarze, eisige Winterwolke. Er wusste nicht, was ihn so bedrückte, doch die Furcht, sie zu verlieren, durchzuckte ihn wie ein Dolchstoß. »Verlass mich nie«, flüsterte er mit rauer Stimme. Er schloss sie in die Arme mit lähmender Kraft, und da verlor sich die Kälte, die ihn gepackt hatte. Er fühlte, wie sie lächelte.
    Â»Wie kannst du daran denken? Hast du Emekkas Worte schon vergessen?« Ihre Stimme war heiter und sanfter als das Wispern des Windes in den Gräsern. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust. »Von nun an sind wir nur ein einziges Wesen. Spürst du denn nicht, wie unsere Herzen gemeinsam
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