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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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verschwunden. Dann war er wieder aufgetaucht. Erneut verschwunden ... Die Diskussionen, die Ausflüchte, die Trennungen hatten sich wiederholt, bis ihre Beziehung nur noch ein Schatten ihrer selbst war.
    Und wo stand sie heute? Nirgendwo. Sie hatte nichts gewonnen. Weder Versprechen noch Gewissheit. Im Gegenteil, sie war nur noch ein Stück einsamer. Bereit, sich mit allem abzufinden. Mit einer anderen zum Beispiel. Alles besser als die Einsamkeit. Alles besser, als ihn zu verlieren. Und sich selbst zu verlieren. So sehr war dieser Mensch zu einem Teil von ihr geworden, so sehr peinigte er sie ...
    Seit etlichen Wochen erledigte sie ihre Arbeit nur mit halber Kraft; die kleinste Geste, der geringste Gedanke erforderte übermenschliche Anstrengung. Sie bearbeitete ihre Akten, ohne richtig bei der Sache zu sein. Sie tat so, als würde sie existieren, arbeiten, atmen, aber ihre Angst hatte sie völlig im Griff. Ihre verkohlte Liebe. Ihr Tumor.
    Und dann diese quälende Frage, ob es eine andere gab.
    Jeanne Korowa kehrte gegen Mitternacht in ihre Wohnung zurück. Zog ihren Mantel aus, ohne das Licht einzuschalten. Legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, mit Blick auf die Straßenlaternen, deren Licht gegen die Finsternis ankämpfte.
    Dort masturbierte sie, bis sie der Schlaf übermannte.

 
    3
    Name. Vorname. Alter. Beruf.
    »Perraya. Jean-Yves. Dreiundfünfzig Jahre. Ich leite eine Hausverwaltungsgesellschaft, die COFEC.«
    »Die Anschrift?«
    »Rue du Quatre-Septembre 14, im 2. Arrondissement.«
    »Ihre Privatadresse?«
    »Boulevard Suchet 117, 16. Arrondissement.«
    Jeanne wartete, bis ihre Mitarbeiterin Claire diese Angaben notiert hatte. Es war zehn Uhr morgens. Und es war schon heiß. Nur selten führte sie vormittags Vernehmungen durch. Gewöhnlich verbrachte sie die ersten Stunden ihres Arbeitstages damit, Akten zu studieren und für die anstehenden gerichtlichen Maßnahmen am Nachmittag – Anhörungen, Vernehmungen, Gegenüberstellungen – Telefonate zu tätigen. Aber diesmal wollte sie ihren Besucher überrumpeln. Sie hatte ihm die Vorladung am Vorabend zukommen lassen. Sie hatte ihn lediglich als Zeugen geladen. Ein klassischer Trick. Ein Zeuge hat keinen Anspruch auf einen Rechtsbeistand oder auf Akteneinsicht. Ein Zeuge ist doppelt so verwundbar wie ein Verdächtiger.
    »Monsieur Perraya, muss ich Ihnen noch einmal darlegen, weshalb Sie vorgeladen wurden?«
    Der Mann antwortete nicht. Jeanne fuhr mit sachlicher Stimme fort:
    »Sie werden hier zu den Geschehnissen vernommen, die sich in der Avenue Georges-Clemenceau 6 in Nanterre ereigneten. Auf Anzeige von Monsieur und Madame Assalih, Staatsbürger des Tschad, wohnhaft in der Cité des Fleurs, Rue Sadi-Carnot 12 in Grigny. Eine weitere, mit der ersten verbundene Anzeige wurde von Médecins du Monde und der Vereinigung der Opfer von Bleivergiftungen (VOB) gestellt.«
    Perraya rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, während er seine Schuhe anstarrte.
    »Es geht um folgende Sachverhalte. Am 27. Oktober 2000 wird die sechsjährige Goma Assalih, die mit ihren Eltern in der Avenue Georges-Clemenceau 6 wohnt, in die Klinik Robert-Debré gebracht. Sie klagt über heftige Bauchschmerzen, und sie leidet an Durchfall. Die Bleikonzentration in ihrem Blut ist stark erhöht. Goma hat eine Bleivergiftung. Sie muss sich einer einwöchigen Entgiftungstherapie unterziehen.«
    Jeanne hielt inne. Ihr »Zeuge« hielt den Atem an und starrte noch immer auf seine Treter.
    »Am 12. Mai 2001 wird der zehnjährige Boubakar Nour, ebenfalls wohnhaft Avenue Georges-Clemenceau 6, seinerseits in die Necker-Kinderklinik aufgenommen. Die gleiche Diagnose. Er muss sich einer zweiwöchigen Entgiftungstherapie unterziehen. Die Bleivergiftungen dieser Kinder sind auf die Farbe zurückzuführen, mit der die Wände der Wohnungen gestrichen wurden, in denen sie leben – echte Elendsbehausungen. Die Familien Assalih und Nour wenden sich an Ihre Hausverwaltung mit der Bitte, Sanierungsmaßnahmen durchzuführen. Sie reagieren nicht auf ihre Aufforderung.«
    Sie sah auf. Perraya schwitzte.
    »Am 20. November desselben Jahres wird ein weiteres Kind, das in der Avenue Georges-Clemenceau 6 wohnt, der siebenjährige Mohamed Tamar, ins Krankenhaus eingewiesen. Wieder ein Fall von Bleivergiftung. Der kleine Junge, der an schweren Krämpfen leidet, stirbt zwei Tage später in der Necker-Klinik. Bei der Obduktion finden sich in seiner Leber, seinen Nieren und seinem Gehirn Bleispuren.«
    Perraya
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