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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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wahre Eigentümer.«
    Jeanne nickte ihrer Mitarbeiterin Claire zu – ein Hinweis, dass der Zeuge jetzt mit seiner Aussage beginnen würde.
    »Hat er Sie an diesem Tag begleitet?«
    »Ja. Diese Geschichte stank zum Himmel.«
    Sie stellte sich die Szene vor. Juli 2003. Sonne. Hitze. Wie heute. Die beiden Geschäftsleute, die in ihren Hugo-Boss-Anzügen schwitzten, weil sie befürchteten, dass eine »Negerbande« ihr Wohlleben, ihren Erfolg, ihre Machenschaften bedrohte.
    »Hat Dunant denn keine Entscheidung getroffen? Er musste doch reagieren.«
    »Er hat reagiert.«
    »Wie das?«
    Der Mann zögerte abermals. Jeanne betonte:
    »Mir liegt nicht das kleinste Dokument vor, das belegen würde, dass Sie sich damals mit dem Problem beschäftigt haben.«
    Erneutes Schweigen. Ungeachtet seiner kräftigen Statur schien Perraya immer mehr in sich zusammenzusinken.
    »Wegen Tina«, murmelte er schließlich.
    »Wer ist Tina?«
    »Die älteste Tochter der Assalihs. Sie ist achtzehn.«
    »Ich verstehe nicht.«
    Jeanne spürte, dass eine wichtige Enthüllung bevorstand. Sie beugte sich über ihren Schreibtisch und sagte mit weniger strenger Stimme:
    »Monsieur Perraya, was war mit Tina Assalih?«
    »Dunant ist auf sie abgefahren.« Der Mann wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab und fuhr fort: »Er wollte sie vögeln.«
    »Was hat das mit den Sanierungsarbeiten zu tun?«
    »Es war eine Erpressung.«
    »Eine Erpressung?«
    »Tina widersetzte sich. Er wollte ... Er hat versprochen, die Arbeiten durchzuführen, wenn sie ihm zu Willen wäre.«
    Jeanne spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Es gab also ein Motiv. Mit einem Blick überprüfte sie, ob Claire immer noch schrieb. Die Hitze wurde immer unerträglicher.
    »Hat sie eingewilligt?«, hörte sie sich mit heller Stimme fragen.
    Ein düsterer Schimmer glomm in Perrayas Augen auf.
    »Die Arbeiten wurden doch durchgeführt, oder?«
    Jeanne antwortete nicht. Ein Motiv. Totschlag.
    »Wann hat er Tina kennengelernt?«, fragte sie.
    »An diesem Tag. Im Jahr 2003.«
    Mehrere Fälle von Bleivergiftung hätten also verhindert oder zumindest früher behandelt werden können. Jeanne wunderte sich nicht über die Niedertracht des Eigentümers. Ihr waren schon ähnliche Fälle untergekommen. Sie wunderte sich eher darüber, dass sich die junge Frau widersetzt hatte. Es ging um die Gesundheit ihrer Brüder, ihrer Schwestern und der anderen Kinder, die in dem Haus wohnten.
    »War sich Tina über die Folgen ihrer Weigerung im Klaren?«
    »Klar. Aber sie hätte nie eingewilligt. Ich habe es Dunant gesagt.«
    »Wieso?«
    »Sie ist eine Toubou. Ein sehr stolzer, harter Volksstamm. In ihrer Heimat tragen die Frauen ein Messer in der Achselhöhle. In Kriegszeiten lassen sie sich von ihren Männern scheiden, wenn diese am Rücken verwundet werden. Sie sehen, was für ein Menschenschlag das ist.«
    Jeanne senkte den Kopf. Die Notizen, die sie sich immer bei Vernehmungen machte, tanzten ihr vor den Augen. Sie musste weitermachen. Den Knäuel entwirren. Diese Tina Assalih finden und den wahren Mistkerl entlarven: Dunant.
    »Geh ich in den Knast?«
    Sie sah auf. Perraya wirkte nun völlig gebrochen. Er dachte nur daran, sich selbst, seine Familie und seinen Komfort zu retten. Ekel schnürte ihr die Kehle zu. In solchen Momenten verfiel sie wieder in den Nihilismus ihrer Depression. Nichts war lebenswert ...
    »Nein«, antwortete sie, ohne nachzudenken. »Ungeachtet schwerwiegender Anhaltspunkte für Ihre Mittäterschaft verzichte ich darauf, ein Ermittlungsverfahren gegen Sie einzuleiten. Ich berücksichtige Ihr, sagen wir mal, spontanes Geständnis. Unterschreiben Sie Ihre Aussage und verschwinden Sie.«
    Die von Claire getippten Seiten kamen bereits aus dem Drucker heraus. Jean-Yves Perraya stand auf und unterschrieb. Jeanne betrachtete die Fotos auf ihrem Schreibtisch. Kinder, die Infusionen bekamen. Ein Kind mit einer Sauerstoffmaske. Ein schwarzer Leichnam, bereit zur Obduktion. Sie steckte die Abzüge in den Umschlag und diesen in die Aktenmappe, die sie rechts neben ihren Schreibtisch legte. Perraya war gegangen. Der Nächste.
    Das war der übliche Tagesablauf der beiden Frauen. Sie versuchten ein normales Leben zu führen, an gewöhnliche Herausforderungen zu denken, die Menschheit, sagen wir, in Grau zu sehen. Bis zum nächsten Schock, zum nächsten Horror.
    Jeanne sah auf ihre Uhr. Elf. Sie kramte in ihrer Tasche und nahm ihr Handy heraus. Bestimmt hatte Thomas angerufen. Um sich zu
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