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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Gemeinsamkeit: zwei Stunden Psychotherapie pro Woche. Und ihre tiefen seelischen Wunden, die sie zu behandeln versuchten. Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sich die Tatsache, dass sie sich auf den ersten Blick verliebt hatte, nur durch die äußeren Umstände erklären. Der richtige Ort. Die richtige Zeit. Sonst nichts. Sie wusste dies alles, und dennoch hob sie ihn weiterhin in den Himmel und unterzog sich in einem fort einer Selbsthypnose. Die Liebe der Frau: die einzige Domäne, wo das Ei die Henne legt ...
    Das war nicht ihr erster Fehlgriff. Sie hatte eine sichere Hand für Nieten und sogar für Verrückte. Wie etwa diesen Anwalt, der jedes Mal den Boiler ausschaltete, bevor sie bei ihm übernachtete. Er hatte bemerkt, dass Jeanne nach einer heißen Dusche einschlief, ohne mit ihm zu vögeln. Oder diesen Informatiker, der sie über seine Webcam zum Striptease aufforderte. Sie hatte die Sache sofort beendet, als ihr aufging, dass er nicht der Einzige war, der ihr zusah. Oder diesen unbekannten Verleger, der bei Fahrten mit der U-Bahn weiße Filzhandschuhe trug und in Buchhandlungen Sonderangebote stahl. Es hatte noch andere gegeben. So viele andere ... Womit hatte sie nur all diese Typen mit durchgebrannter Sicherung verdient? All diesen Fehlgriffen lag eine einfache Wahrheit zugrunde: Jeanne war in die Liebe verliebt.
    Als Mädchen hatte sich Jeanne an einem Lied nicht satthören können: »Lass sie nicht fallen / sie ist so zerbrechlich / eine emanzipierte Frau / hat es nicht leicht ...« Damals hatte sie die verborgene Ironie dieser Worte nicht verstanden, doch sie ahnte, dass dieses Lied auf geheimnisvolle Weise ihre Zukunft besiegeln würde. Sie hatte Recht behalten. Heute war die Pariserin Jeanne Korowa eine unabhängige, emanzipierte Frau. Und ja ... es war nicht leicht.
    Sie eilte von Prozess zu Prozess, von Haussuchung zu Zeugenvernehmung und fragte sich dabei immer, ob sie auf dem richtigen Weg war. Ob dies das Leben war, von dem sie geträumt hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, einem riesigen Betrug aufgesessen zu sein. Man hatte ihr eingeredet, sie müsse den Männern ebenbürtig sein. Bei der Arbeit ihr Bestes geben. Mit ihren Gefühlen zurückstecken. Aber war das auch wirklich das, was sie wollte?
    Was sie wütend machte, war die Tatsache, dass diese Situation von Männern diktiert worden war. Die Männer in den Städten hatten die Ernüchterung in Sachen Liebe so weit getrieben, dass sich die Frauen gezwungen sahen, ihren Traum von der großen Liebe und ihren Kinderwunsch aufzugeben. Und wozu dies alles? Um im Berufsleben zu bestehen und abends vor der Glotze ihren Träumen nachzuhängen, während sie ihr Lexotanil mit einem Glas Wein hinunterspülten. Das nannte man dann Fortschritt.
    Anfangs waren sie und Thomas das perfekte moderne Paar gewesen. Zwei Wohnungen. Zwei Konten. Zwei Steuererklärungen. Einige gemeinsam verbrachte Abende pro Woche und, um das Maß voll zu machen, ab und zu ein Wochenende in trauter Zweisamkeit in Deauville oder andernorts.
    Als Jeanne es gewagt hatte, gewisse heikle Dinge anzusprechen – »Verlobung«, »Zusammenziehen« oder auch »Kind« –, war sie abschlägig beschieden worden. Ein Bollwerk des Zauderns, der Ausflüchte und des Hinauszögerns ... Und da ein Unglück selten allein kommt, war sie argwöhnisch geworden. Was machte Thomas eigentlich an den übrigen Abenden, wenn sie sich nicht trafen?
    Bei Bränden kommt es gelegentlich zu einem Phänomen, das Experten flashover nennen. In einem geschlossenen Raum zehren die Flammen den gesamten Sauerstoff auf, ehe sie die Luft von außen ansaugen – durch die Spalten unter den Türen und in den Fensterrahmen sowie durch Mauerrisse. Der im Innern entstehende Unterdruck wird so groß, dass er sogar Zwischenwände, Fensterrahmen und Scheiben verformt, bis alles zersplittert. Die jähe Sauerstoffzufuhr von außen nährt den Brand, der immer stärker wird, bis er in einem Feuerball explodiert. Das nennt man flashover .
    Genau dies war Jeanne passiert. Da sie ihr Herz gegen alle Hoffnung abgeschirmt hatte, hatte sie ihre Ressourcen aufgebraucht. Jede Tür, jeder Riegel, den sie in ihren bangen Erwartungen vorgeschoben hatte, war schließlich weggefegt worden und hatte grenzenlose Wut, Ungeduld und maßlose Ansprüche freigesetzt. Jeanne war zu einer Furie geworden. Sie hatte Thomas unter Druck gesetzt. Sie hatte ihm Ultimaten gestellt. Das Ergebnis war absehbar gewesen: Der Mann war ganz einfach
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