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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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der modernen Technik hatte andere Gesetze. Jeanne steckte ihre 9 mm in seinen Mund und drückte ab. Joachims Schädel explodierte. Es verschlug ihr den Atem. Fleischstückchen, Knochensplitter klebten ihr auf dem Gesicht.
    Sie fing sich wieder. Der Pfad. Der Landungssteg. Die lancha. Sie wischte das Zifferblatt ihrer Uhr ab, das von blutigem Fleischbrei überzogen war. 16.30 Uhr. Eine halbe Stunde. Ihr blieb eine halbe Stunde, um zum Fluss zu gelangen.
    Der Körper Joachims lastete auf ihr. Jeanne entledigte sich seiner, als wäre er eine schwere Strohmatte. Sie klammerte sich an die Kante des Hohlraums. Es gelang ihr, sich aufzurichten und von ihrem Ansitz herunterzuklettern. Zum Fluss laufen. Den Wald der Manen hinter sich lassen ...
    Einige Sekunden später setzte sie ihre Füße wieder auf den Boden des Pfades, der ihr so fest, so solide vorkam wie noch kein Boden zuvor. Sie rannte los. Erstaunt darüber, dass ihre Gliedmaßen überhaupt reagierten. Dass sie frei atmen konnte. Dieses Erstaunen zog ein anderes nach sich: Ihre Verletzung. Sie blieb stehen und führte die Hand zu ihrer Schulter. Die Wunde war oberflächlich. Joachim hatte nicht genügend Zeit gehabt, um seine Zähne tiefer hineinzubohren. Ohne genauer darüber nachzudenken, was sie tat, hob sie etwas Schlamm auf und verrieb ihn auf der Bisswunde. Sie wusste nicht, ob das etwas nützte, aber allein die Geste beruhigte sie.
    In diesem Moment ertönte ein Knurren. Anschließend ein Gebrüll, als ob dem Wald selbst der Bauch aufgeschlitzt würde. Stimmbänder wie Wurzeln, die aus der Erde herausgerissen worden waren. Die Schreie schienen von überall gleichzeitig zu kommen. Ihre Lautstärke schwoll an und ab. Die Ungeborenen hatten die Leiche ihres Anführers entdeckt. Würden sie mit seiner sterblichen Hülle dorthin zurückkehren, von wo sie aufgebrochen waren? Oder würden sie der Täterin nachjagen?
    Sie wollte weder auf die eine noch auf die andere Möglichkeit wetten.
    Der Fluss war noch immer nicht in Sicht. Sie fragte sich, ob sie sich nicht verirrt hatte. Verlaufen. Wenn sie sich in diesem Labyrinth verirrte, war sie verloren.
    17.00 Uhr.
    Laufen. Laufen. Laufen.
    Noch immer keine Ungeborenen ...
    Jetzt taumelte sie ... Sie war benommen, sie spürte nichts mehr. Die Anderen waren nicht da. Die Anderen hatten sie vergessen. Die Anderen waren in ihre Welt aus Gewalt und Schlamm zurückgekehrt ...
    Plötzlich sah sie ein kupferfarbenes Band. Der Gedanke bildete sich nur mühsam in ihrem Kopf. Erde und Blut waren getrocknet und hatten ihre Nervenzellen gelähmt.
    Aber doch.
    Da war der Fluss, hinter dem Morast.
    »Ist das Blut?«
    Der Gaucho erhob sich in dem Boot, das zur Hälfte von Schilfrohr verdeckt wurde. Sie hätte ihn am liebsten geküsst, in die Arme geschlossen, sich ihm zu Füßen geworfen.
    »Schlamm«, keuchte sie. »Ich bin hingefallen.«
    »Wo ist Ihr Freund?«
    »Er ist geblieben.«
    »Geblieben?«
    »Ich werde es Ihnen erklären.«
    Der Gaucho streckte ihr die Hand entgegen. Jeanne stieg ins Boot. Sie hatte das Gefühl, als würde sich ein Stück des Ufers lösen. Dieses Stück war sie. Sie wurde wieder menschlich.
    In der lancha brach sie zusammen und fiel auf den Rücken. Das Gesicht zum Himmel gerichtet. Mit seinen kleinen rosafarbenen Wölkchen, wie auf alten Gemälden. Sie schloss die Augen. Das Unendliche öffnete sich in ihr. Reiner Genuss. Sie kostete jeden Herzschlag aus. Jedes Lebenszeichen ...
    Der Gaucho musste glauben, dass sie am Einschlafen war. Er begann leise zu singen, wie um sie einzuwiegen.
    Mit geschlossenen Augen rief sie sich ihre einsamen Abende in Paris in Erinnerung. Ihren weißen Reis. Ihren grünen Tee. Grey's Anatomy. Ihre Lexotanil, die sie mit Weißwein hinunterspülte ...
    Das Leben, ganz einfach.
    Im Grunde gar nicht so übel.
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