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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie
Autoren: Jean-Christophe Grange
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mit Hahnentrittmuster in der Tür – mit zerzaustem Haar, zerknitterter Miene, unrasiert. Einer der sieben Ermittlungsrichter am Landgericht. Man nannte sie die »sieben Söldner«. Reinhardt besaß bei weitem den meisten Sexappeal. Vom Typ her eher Steve McQueen als Yul Brynner.
    »Hast du Bereitschaftsdienst für Steuerstrafsachen?«
    »Gewissermaßen.«
    Vor drei Wochen hatte man ihr dieses Sachgebiet übertragen, auf dem sie keine Expertin war. Genauso gut hätte sie die Zuständigkeit für Schwerkriminalität oder Terrorismus bekommen können.
    »Ja oder nein?«
    »Ja!«
    Reinhardt schwenkte eine Mappe aus grünem Karton.
    »Die Staatsanwaltschaft hat sich vertan. Sie haben mir diesen Antrag auf Einleitung des Ermittlungsverfahrens zugesandt.«
    Ein Antrag auf Einleitung des Ermittlungsverfahrens wird von einem Staatsanwalt nach der ersten Prüfung eines Falles gestellt. Ein amtliches Dokument, das an die ersten Unterlagen der Akte angetackert ist: Protokolle der Polizisten, Bericht des Finanzamtes, anonyme Briefe ... Alles, was die ersten Verdachtsmomente erhärten kann.
    »Ich habe eine Kopie für dich gemacht«, fuhr er fort. »Du kannst sie sofort durcharbeiten. Ich schicke ihnen das Original noch heute Abend zurück. Sie werden dir die Sache morgen übertragen. Oder ich warte ein paar Tage und übergebe die Akte dem nächsten Richter, der Bereitschaftsdienst hat. Willst du, oder nicht?«
    »Worum handelt es sich?«
    »Ein anonymer Bericht. Ein schöner kleiner politischer Skandal, wie es scheint.«
    »Welches Lager?«
    Er führte die rechte Hand an seine Schläfe und tat so, als würde er salutieren.
    »Ganz rechts, Herr General!«
    Binnen einer Sekunde hatte Jeanne Feuer gefangen. Denn ihr Beruf war tatsächlich ihre Berufung. Sie war erfüllt von ihrer Aufgabe. Dem Bewusstsein ihrer Macht. Ihrer Stellung als Richterin kraft präsidialem Dekret.
    Sie streckte den Arm über ihren Schreibtisch aus.
    »Gib her.«

 
    2
    Sie hatte Thomas auf einer Vernissage kennengelernt. Sie erinnerte sich noch an das genaue Datum: 12. Mai 2006. An den Ort: ein weitläufiges Appartement auf dem linken Seineufer, in dem damals eine Fotoausstellung gezeigt wurde. Ihr typischer Look: indischer Kasack, graumoirierte Jeans, Stiefel mit Silberschnallen nach Art von Motorradfahrerstiefeln. Jeanne hatte keine Augen für die Fotos an den Wänden gehabt. Sie hatte sich auf ihr Ziel konzentriert: den Fotografen selbst.
    Sie hatte so viel Champagner getrunken, bis sie völlig enthemmt war. Wenn sie ihr Opfer ausgewählt hatte, liebte sie es, sich gehen zu lassen und selbst Opfer zu werden. Killing me softly with his song. Die Version der Fugees übertönte das Stimmengewirr. Die perfekte Musik für ihren mentalen Striptease, bei dem sie sich nach und nach von ihren Ängsten, ihrer Scheu und Schamhaftigkeit befreite. All dies schwebte über ihrem Kopf wie ein Bustier oder ein String-Tanga, bis sie endlich die wahre Freiheit erreichte: die des Begehrens.
    Gleichzeitig hörte Jeanne die Warnungen von Freundinnen: »Thomas? Ein Schürzenjäger. Ein Weiberheld. Ein Dreckskerl.« Sie lächelte. Es war schon zu spät. Der Champagner betäubte ihr seelisches Abwehrsystem. Er hatte sich ihr genähert. Hatte mit seiner Verführungsnummer begonnen, die im Grunde recht erbärmlich war. Aber jenseits der Scherze glühte sein Verlangen. Und in ihrem Lächeln spiegelte sich ihre Antwort wider.
    Schon bei dieser Begegnung hatten die Missverständnisse angefangen. Der erste Kuss war zu schnell gekommen. Noch am selben Abend im Auto. Und wie ihre Mutter zu sagen pflegte, ehe sie durchdrehte: »Für die Frau ist der erste Kuss der Anfang einer Affäre. Für den Mann ist es der Anfang vom Ende.« Jeanne machte sich Vorwürfe, weil sie so schnell nachgegeben hatte. Weil sie es nicht verstanden hatte, die erotische Spannung langsam wachsen zu lassen.
    Um das Maß voll zu machen, hatte sie sich ihm anschließend mehrere Wochen verweigert und so für unnötige Spannungen zwischen ihnen gesorgt. Ihre Rollenverteilung war klar: Er war der Fordernde, sie die Abweisende. Vielleicht schützte sie sich bereits ... Sie wusste, dass sie mit ihrem Körper auch ihr Herz hingeben würde. Und dass damit die echte Abhängigkeit begann.
    Thomas war ein guter Fotograf, keine Frage. Aber ansonsten war er eine Null. Er war weder schön noch hässlich. Bestimmt nicht sympathisch. Geizig, egoistisch und feige, wie die meisten Männer. Tatsächlich hatten Jeanne und er nur eine
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