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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
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falschen Film gewähnt, als er zum ersten Mal am äusserst kauzigen Gartenhaus in der Tannerstrasse vorbeigetrabt war.
    «Das ist kein kauziges Gartenhaus, das ist ein original Berner Kornspeicher aus dem 18. Jahrhundert», hatte ihn Simone belehrt.
    So etwas kannte Chris sonst nur von seinen Landsleuten. Die waren Weltmeister darin, ein Gebäude aus seinem ursprünglichen Kontext zu reissen und es an einem ganz und gar unpassenden Ort wieder aufzubauen. Vielleicht waren sich Schweizer und Amerikaner ja doch ähnlicher, als er zunächst gedacht hatte.
    Der Lichtkegel der Stirnlampe tanzte im Rhythmus seiner Schritte auf und ab. Er atmete regelmässig. Seine Glieder bewegten sich geschmeidig. Friedhof und Kunsthausweg hatte er hinter sich gelassen, und noch verspürte er nicht die geringste Anstrengung. Beschwingt, beinahe euphorisch, bog Chris scharf rechts auf den Kiesweg des Rathausgartens ein. Er hatte den Durchgang im vermörtelten Schichtmauerwerk kaum passiert, da gewahrte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Reflexartig duckte er sich und hechtete auf die freie Rasenfläche.
    «Das wird dir nichts nützen, du Missgeburt des Teufels.» Ein ausgemergelter Körper löste sich aus dem Schatten der Mauer. Schritt für Schritt ging er auf Chris zu, ein irres Grinsen im Gesicht.
    Chris rappelte sich vom Boden auf. Sein Mund fühlte sich trocken an. Die Hände waren feucht und zitterten. Die Szenerie liess ihn an ein schlechtes B-Movie denken. An die Stelle, kurz bevor der Zombie seinem Opfer die Gedärme herausreisst. Aber Chris erkannte auf einen Blick, dass er dem Mann vor ihm körperlich überlegen war. Dennoch wich er zurück. Dabei sah er sich hastig nach Spaziergängern um, die ihm im Falle eines Kampfes zu Hilfe eilen konnten. Doch bis auf ihn und den Unbekannten war der Rathausgarten menschenleer.
    Der Dürre war inzwischen so nah, dass Chris seinen säuerlichen Atem riechen konnte.
    «Kreaturen wie du sind Gott dem Herrn ein Gräuel, und mir als seinem irdischen Vertreter ebenso. Sieh die Klauen des Satans!» Die Hände des Dürren schnellten nach vorn, die Finger gekrümmt, die Daumen leicht abgespreizt.
    Die Erkenntnis durchzuckte Chris wie ein Blitz. «Die Briefe, SIE waren das!» Er hatte einmal gelesen, dass die Sinnesorgane dem Menschen pro Sekunde zehn Billionen Bits Informationen liefern, dass ihm davon aber lediglich zehn bis hundert Bits bewusst werden. Aus irgendeinem Grund erachtete sein Unterbewusstsein die Tatsache, dass die Hände, die nach seinem Hals griffen, je sechs Finger hatten, offenbar für relevant genug, um sie an sein Bewusstsein weiterzuleiten.
    War es diese Abartigkeit oder der reine Überlebensinstinkt, der ihn endlich so reagieren liess, wie jeder vernünftige Mensch in seiner Lage längst reagiert haben würde? Chris wusste es nicht. Und es war ihm egal. Das Einzige, was jetzt zählte, war, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Verrückten zu bringen.
    Wie er es im «Selbstverteidigungskurs für höhere Führungskräfte» bis zum Abwinken geübt hatte, riss er seine Hände an die Hüften zurück und stiess sie – zu Fäusten geballt und die Pulsseite seinem Körper zugewandt – zwischen den Armen des Angreifers nach oben. Noch während sie wie ein Keil aufwärtsschossen, drehte Chris die Unterarme blitzschnell nach aussen. Der Wucht des Schlages war der Verrückte nicht gewachsen. Mit einem überraschten Aufschrei liess er von Chris ab.
    Chris hielt sich nicht damit auf, sich über seinen Sieg zu freuen. Vielmehr rammte er dem Angreifer das Knie in die Genitalien. Erst dann ergriff er die Flucht. Er spurtete durch den Park und hetzte die gewundene Kunsthaustreppe hinunter.
    Vor dem Regierungsgebäude blieb er keuchend stehen. Er glaubte nicht wirklich, dass der Irre ihm folgte; so wie der Kerl zusammengesackt war, würde er einige Zeit brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Trotzdem schaute er sich aufmerksam um.
    Eine rote Honda fuhr von der Oberen Vorstadt über den Kreisel am Aargauerplatz in die Schönenwerderstrasse und verschwand um die Strassenbiegung. Drei Teens in ultraweiten Low Rise Jeans standen vor dem McDonald’s und diskutierten lautstark darüber, ob sie ihre Hamburger hier reinschieben sollten oder lieber im Burger King am Bahnhof. Der Fremde hingegen war nirgends zu sehen. Es waren überhaupt auffällig wenige Nachtschwärmer unterwegs. Möglich, dass in der ehemaligen Futterfabrik gerade eine Party stieg. Selbst war Chris zwar noch nie
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