Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
Vom Netzwerk:
Platane stehen bleiben. Auch war er nach wie vor nicht gewillt, seine Joggingrunde abzubrechen. Für Rückzieher war er nicht der Typ. Dennoch dünkte es ihn fast ein Wunder, dass er die Laurenzentorgasse unbehelligt überqueren konnte. Nach allem, was am heutigen Abend geschehen war, fehlte nur noch, dass die Filialleiterin der «Argovia Credit Groupe», überzeugte Pazifistin und strenge Vegetarierin, mit erhobener Machete aus dem Bankgebäude hinaus auf den Schlossplatz stürzte und versuchte, ihn in Stücke zu hacken. Diese Vorstellung war – Konkurrenz hin oder her – so absurd, dass Chris hysterisch zu lachen begann.
    Mit einem Schlag fiel die Anspannung der vergangenen Minuten von ihm ab. Er lachte noch immer, als er das Kino «Schloss» und die vier klassizistischen Säulen des «Kultur- und Kongresshauses» passierte. Wahrscheinlich schaute ihn der Arbeiter, der eben eine rot-weisse Bauabschrankung zum Stadtmuseum hinuntertrug, deshalb so seltsam an. Chris winkte dem Mann fröhlich zu. Wenn sich bei der nächsten Geschäftsleitungssitzung einer seiner Bereichsleiter über die hohe Arbeitszeitbelastung beklagte, würde er ihn auf die armen Hunde vom Stadtbauamt verweisen. Kurz vor Mitternacht die Baustelle des nächsten Tages vorzubereiten zeugte von einer Arbeitsmoral sondergleichen – oder von einer verdammt schlampigen Ressortführung, was er seinen Untergebenen natürlich nicht auf die Nase binden würde.
    Wie immer wenn Chris den schmalen Schlösslirain hinunterlief, vorbei an den Findlingen und Aarekieseln, die im 13. Jahrhundert zu einem trutzigen Turm aufgemauert worden waren, warf er einen Blick auf das Wasserrad an der Rückseite des Gebäudes. Er liebte das Teil, auch wenn es lediglich ein Nachbau aus der Neuzeit war. Silas würde es ebenfalls gefallen. Schon jetzt freute er sich auf den Tag, an dem er seinem Sohn in allen Details erklären konnte, wie eine Mühle funktionierte. Mit Silas würde er all das tun, was sein eigener Vater mit ihm nie getan hatte. Er würde sein, was sein Vater nie war: hingebungsvoll, verwegen, abenteuerl –
    Jäh wurde Chris aus seinen Gedanken gerissen. Sein Fuss hatte sich verhakt. Noch im Fallen raubte ihm ein ungeheurer Schmerz im Schädel schier die Sinne. Er hatte nie daran geglaubt, dass in den letzten Sekunden vor dem Tod das ganze Leben noch einmal an einem vorüberzog. Jetzt erlebte er sämtliche Demütigungen, Ängste und Freuden ein zweites Mal: das Ringen um seine Geschlechtsidentität, das Aufblühen in der Beziehung zu Simone, Silas’ Geburt. Das Letzte, was er registrierte, war die rot-weisse Bauabschrankung, die die Treppe zum Parkplatz an der Mühlemattstrasse von unten absperrte. Verdammte Scheisse, dachte er.
    Als sein Kopf unten an der Treppe auf dem Pflaster aufschlug, platzte die Schädelschwarte sternförmig auf. Gleichzeitig zersprang die Glühbirne seines inneren Projektors. Die Filmvorführung war zu Ende. Die beiden Hammerschläge, die seine Kopfhaut durchtrennten und die Wundränder vom Schädelknochen abschoben, spürte er bereits nicht mehr.

FÜNF
    «Angie, A-Angie, when will those clouds all disappear …»
    Ein Arm schälte sich unter dem Laken hervor und tastete nach dem Smartphone, das auf dem als Nachttisch dienenden Lederkoffer lag.
    «Angie, A-Angie, where will it l…»
    Einen Atemzug lang war Patrick Unold versucht, den Anruf wegzudrücken. Doch dann überwand er sich und knurrte ein verschlafenes «Welcher Idiot auch immer um drei Uhr nachts anruft – versuchen Sie es morgen früh noch einmal!» ins Mikrofon. Keine zwei Sekunden später war er wieder eingeschlafen.
    «Angie, A-Angie, when will those …»
    «Fuck! Ich habe do–»
    «Bevor Sie auch nur ein weiteres Wort sagen, hören Sie mir genau zu», blaffte es an sein Ohr.
    «Oh, Sie sind das.»
    «Sparen Sie sich Ihr Gesäusel.» Bernhard Geigy, Leiter der Abteilung «Leib und Leben» der Kriminalpolizei Aargau, gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. «Lassen Sie es sich hier und jetzt gesagt sein: Noch mal so was wie eben, und Sie haben Ihr Praktikum beendet, bevor es überhaupt angefangen hat. Dann wird auch Vitamin B Ihren Arsch nicht mehr retten.»
    «Alles klar. Kommt nicht wieder vor.»
    «Das will ich auch hoffen. In fünf Minuten stehen Sie auf der Matte. Ich hole Sie ab.»
    «Aber –» Mein Praktikum beginnt erst um halb acht, wollte Unold noch sagen, doch Geigy hatte bereits aufgelegt.

    «Männliche Leiche auf dem Wasserrad beim
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher