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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
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Beispiel, die Rosetta, die muss jetzt schauen, wie’s mit ihrer Tochter weitergeht. Und ich, ich kann nicht mehr richtig arbeiten.»
    «Was fehlt dir denn?» Flora war froh über jeden Vorwand, nicht länger über Stephan nachdenken zu müssen.
    «Das Übliche halt. Die Arme, der Rücken – alles kaputt, weisch. Auf dem Bau, bei jedem Wetter, zwölf bis vierzehn Stunden am Tag. Das geht an die Substanz. Eigentlich sollte ich operieren. Aber ich hab jetzt schon zwanzig Prozent weniger Kraft im Arm. Der Arzt sagt, nach der OP fehlen nochmals zwanzig Prozent. Ja, und dann? Ich hab vier Kinder. Und meine Frau ist zu Hause, weisch.»
    «G-g-genau, das Leben. V-V-Vincenzo hat einen kaputten Arm, G-G-Gody hatte einen Herzinfarkt –»
    «Zwei. Ich hatte zwei Infarkte.»
    «G-G-Gody hatte zwei Herzinfarkte», korrigierte sich Alain Schaad gehorsam, «d-d-du bist mit einem Mistkerl liiert, von dem du nicht weisst, ob er überhaupt ein Mistkerl ist –»
    «… dem Sarasin nehmen sie die Existenzgrundlage weg –»
    «… u-u-und in England und den Niederlanden werden F-F-Füsse angeschwemmt.»
    Flora verzog angewidert das Gesicht.
    «D-d-das stand kürzlich in der Zeitung. Z-z-zwei Füsse in Sch-Sch-Schuhen und Socken. D-d-der rechte Fuss wurde vor der englischen N-N-Nordseestadt Hull angespült. D-d-der linke am Strand von T-T-Terschirgendwas.»
    «Na dann mal Prost!» Kurt Bretscher hob sein Glas. «Ist fast wie im Mittelalter. Da hat man den Räubern und Dieben über Nasen, Hände und Füsse auch so ziemlich alles abgeschnitten. Ich wette mit euch um die nächste Runde Kiwi-Bananensaft: Irgendeiner da draussen vermisst seine Füsse jetzt schmerzlich.»
    «Gody Metzger, das ist ü-ber-haupt nicht lustig», sagte Flora und prustete los.

VIER
    Locker und gleichmässig trabte Chris Morton die Fröhlichstrasse entlang und bog nach links in die Tannerstrasse ein. Er hatte seine tägliche Laufrunde noch nie ausfallen lassen – mit Ausnahme in der Zeit kurz vor und nach Silas’ Geburt und während der Operationen, die ihn zu dem gemacht hatten, was er heute war. Simone hatte bloss gelacht, als er, zehn Minuten nachdem der Umzugswagen abgefahren war, bereits die Laufschuhe geschnürt hatte. Eine andere hätte ihm eine Szene gemacht. Nicht so Simone. «Ich habe den Umzug so gut wie allein gemanagt, ich werde die nächsten sechzig Minuten auch ohne dich hinkriegen. Also zieh schon Leine, bevor ich es mir anders überlege.»
    Das hatte sich Chris nicht zweimal sagen lassen. Seither joggte er jeden Abend seine Zehn-Kilometer-Schlaufe – nicht auf den Hasenberg oder zum «Wildpark Roggenhausen», wie es aufgrund seiner Wohnlage im Zelgliquartier eigentlich nahelag, sondern am Friedhof vorbei, den Kunsthausweg hinab, via Rathausgarten, Altstadt und Schlossplatz zur Mühle hinunter und über die verkehrsreiche Mühlemattstrasse auf den Philosophenweg neben der Aare. Chris schmunzelte. Philosophenweg. Gab es einen Ort, der besser geeignet gewesen wäre, die Alltagssorgen aus dem Hirn zu schütteln und neuen, konstruktiven Gedanken Platz zu machen? Konstruktive Gedanken konnte er im Augenblick weiss Gott brauchen. Seit Monaten hing der Themenkomplex «Schwarzgeld, Steuerflucht und Beihilfe zur Steuerhinterziehung» wie ein Damoklesschwert über dem Bankenplatz Schweiz. So gesehen waren die neusten Enthüllungen über undurchsichtige Finanzkonstrukte in britischen und amerikanischen Steueroasen beinahe ein Segen. Endlich standen die Schweizer Banken nicht länger allein im Fokus der staatlichen Steuerfahnder. Zudem war das Investmentbanking eine einzige Krise. Um zu erkennen, dass die fetten Jahre der Branche vorbei waren, musste man wahrlich kein Hellseher sein.
    Wie immer um diese Uhrzeit lag das Zelgli wie ausgestorben da. Die Nacht war zwar mit knapp zwanzig Grad deutlich weniger schwül als die vorangegangene, aber es war längst noch warm genug, damit man es sich auf der Terrasse oder im Garten mit einer guten Flasche Wein bequem machen und auf das Bett vorbereiten konnte. Aber offenbar waren die Quartierbewohner diesbezüglich anderer Ansicht. Denn wo auch immer sie sich gerade herumtrieben, in ihren Gärten sassen sie jedenfalls nicht. Chris hatte überhaupt den Verdacht, dass die pingelig gepflegten Anlagen weniger dazu gedacht waren, betreten zu werden, als vielmehr, den Gärtner zu beschäftigen.
    Chris wollte es nicht verschreien, aber die Schweizer Mentalität war ihm, gelinde gesagt, fremd. Umso mehr hatte er sich im
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