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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
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aus medizinischer Sicht möglich wären. Darum muss ich als Vertrauensarzt nicht nur beurteilen, ob die Behandlungen, denen sich die Versicherten unterziehen wollen, zweckmässig und wirksam sind. Ich muss auch ihre Wirtschaftlichkeit überprüfen und –»
    «Mannomann, Stephan, ich kann dieses Oberlehrergetue nicht mehr hören. Komm zum Thema bitte!»
    «Aber ich –»
    «Ich bin noch nicht fertig! Eines ist mir in diesem Moment endlich klar geworden: Es ist nicht dein Ernährungsstil, der mich auf die Palme bringt, es ist dieses ständige Dozieren. Okay, ich habe keinen Doktortitel, aber deshalb bin ich noch lange kein Vollidiot.»
    «Das habe ich auch nie behauptet.»
    «Warum behandelst du mich dann wie einen?»
    «Ich wollte dir doch bloss erklären –»
    «Genau das meine ich. Immer willst du mir was erklären. Herrgott, ich bin auch in der Schweiz aufgewachsen. Ich weiss, wie unser Gesundheitssystem funktioniert. Ich wollte lediglich wissen, warum du nicht mehr für die ‹Ökosana› arbeiten willst.»
    «War’s das?» Stephan rutschte ans Ende der Bank und starrte auf den Boden.
    Flora gab keine Antwort.
    «Was ich dir jetzt sage, muss unter uns bleiben.»
    «Ja, ja.»
    «Ich meine es ernst. Die Sache ist absolut vertraulich. Nicht nur wegen der Geheimhaltungserklärung, die ich unterzeichnet habe. Die Rechtslage –»
    «Stephan, komm endlich zum Thema!»
    Stephan schluckte. «Ich habe einer fünfundzwanzigjährigen Patientin eine lebenswichtige Behandlung gestrichen», begann er zögerlich. «Aus Kostengründen. Und jetzt fühle ich mich einfach nur beschissen.»
    «Du hast was? Aber warum?»
    «Ich hatte keine Wahl. Das Bundesgericht hat vor Kurzem ein Präzedenzurteil gefällt: Das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Behandlung müsse angemessen sein. Komme ein gerettetes Menschenlebensjahr auf mehr als rund hunderttausend Franken jährlich zu stehen, sei die Behandlung unwirtschaftlich – dies auch dann, wenn sie an sich von hohem therapeutischem Nutzen sei. Im zu beurteilenden Fall unterstrich das Bundesgericht zudem, dass in der Schweiz etwa einhundertachtzigtausend Menschen mit einer ähnlich eingeschränkten Lebensqualität lebten, wie sie die betroffene Patientin aufweise. Würde jeder dieser Menschen eine fünfhunderttausend Franken teure Behandlung verlangen, entspräche das einem Aufwand von neunzig Milliarden Franken. Das wäre das eins Komma Sechsfache der gesamten Gesundheitskosten der Schweiz oder etwas mehr als sieben Prozent unseres Bruttoinlandprodukts. Einen solchen Betrag könne die obligatorische Krankenpflegeversicherung für die Linderung eines einzigen Beschwerdebildes unmöglich aufwenden. Es wäre daher ein grober Verstoss gegen die Verteilungsgerechtigkeit, wenn der einen Patientin zugestanden würde, was den übrigen verwehrt bleibe.»
    Stephan schwieg und bohrte mit der Schuhspitze einen Kiesel aus dem kurz geschnittenen Rasen.
    «Und was heisst das konkret? Wird die Patientin …?»
    Stephan bückte sich, klaubte den Stein auf und schleuderte ihn aus dem Handgelenk weit von sich. Mit einem metallenen Geräusch knallte er gegen die Drehscheibe auf dem Kinderspielplatz, spickte zurück und blieb im Kiesbett liegen. «Die Frau wird in absehbarer Zeit sterben, ja. Nicht, weil man sie nicht behandeln könnte, sondern weil die Rettung ihres Lebens unser Gesundheitssystem zu teuer käme.»
    «Scheisse.»
    «Das kannst du laut sagen.» Zum ersten Mal seit er in den Kasinogarten gekommen war, wich Stephan Floras Blick nicht aus. «Und ich Idiot bin in meinem Bericht dem Urteil des Bundesgerichts gefolgt. Anfang letzter Woche habe ich den abschlägigen Bescheid an meinen Chef weitergereicht.»
    «Und wenn du dich morgen gleich bei ihm meldest und sagst, dass du bei deiner Beurteilung etwas übersehen hast? Ich meine, jeder Fall ist doch individuell.»
    «Ich habe keine Ahnung, wie ich die Behandlung der Patientin angesichts des Präzedenzurteils rechtfertigen soll. Begreifst du jetzt, warum ich rausmuss aus meinem Job? Ich verurteile Menschen zum Tod. Des Geldes wegen. Und das nicht nur mit dem Einverständnis unserer Regierung, sondern quasi in ihrem Auftrag. Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht.» Er barg das Gesicht in den Händen.
    Flora konnte kaum glauben, was sie sah. Stephan weinte. Seine Schultern wurden von lautlosem Schluchzen geschüttelt. Zögernd hob sie die Hand, um ihm über das stoppelige Haar zu streichen. Doch noch bevor ihre Fingerspitzen seinen zuckenden
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