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Im Schatten des Schloessli

Im Schatten des Schloessli

Titel: Im Schatten des Schloessli
Autoren: Ursula Kahi
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schwermütig, wie er ist, weisch.»
    «Ich bin der Herr. Und der Messias. Und Satan. Mir ist es gegeben, euch in das ewige Himmelreich zu führen oder in die ewige Verdammnis zu reissen», donnerte Johannes jetzt.
    «Dann nimm die Schweine von der ASH gefälligst mit in die Hölle!», lallte Thomas Sarasin. Angewidert spuckte er dem Prediger vor die Füsse. Dann wandte er sich um, torkelte an «Floras veganer Welt» vorbei, überquerte den Graben und verschwand in Richtung Färberplatz.
    «Das hätte ich mir ja denken können, dass die ASH ihre Finger im Spiel hat. Genau wie beim ‹Affenkasten›.»
    «Fang jetzt bloss nicht wieder mit diesen alten Kamellen an, Kurt», gab Gody Metzger gereizt zurück.
    «Herrgottsakrament!» Kurt Bretscher hieb die Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. «Hätten mir die Hurensöhne damals den Kredit gegeben, ich hätte die Beiz heute noch. Aber wir Büezer sind diesen Herren ja scheissegal. Selbst kassieren sie Millionen, ohne überhaupt einen Finger krumm gemacht zu haben, aber den kleinen Mann lassen sie verrecken.»
    «F-f-fühlst du dich jetzt besser?»
    «Viel!» Kurt Bretscher grinste schief. «Das musste einfach mal gesagt sein.»

DREI
    Müde schloss Flora Winkelried die Tür zu ihrer Wohnung auf. Deren Lage erwies sich im Nachhinein als absoluter Glücksfall. Sie befand sich im Dachgeschoss eines Altstadthauses gegenüber der Stadtbibliothek, keine zwanzig Meter von ihrem veganen Imbiss entfernt. Das Gebäude mit den pittoresken Dachgauben und dem reich bemalten Giebel war Teil einer Häuserzeile, die den Graben auf der einen Seite säumte. Die schmucken Dachunterseiten waren nicht nur hier anzutreffen, sondern zierten die ganze Altstadt; nicht umsonst hiess Aarau im Volksmund «Stadt der schönen Giebel». Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts verlief an dieser Stelle die äussere Stadtmauer. Stand Flora in der Küche und wirkte Teig für ihre Tomaten-Rosmarin-Brötchen, bereitete es ihr ein geradezu kindliches Vergnügen, sich vorzustellen, sie blicke auf den ehemaligen Trockengraben anstatt auf den gepflasterten Strassenzug mit seiner zweireihigen Platanenallee. Zwanzig Meter breit und bis zu fünf Meter tief hatte der Graben einst als Teil der Stadtbefestigung dazu gedient, die Bürger des Kyburgerstädtchens vor Eindringlingen zu schützen. Insgeheim bedauerte Flora, dass die Stadtmauern 1820 bis auf einzelne Türme und Tore geschleift und die Gräben zugeschüttet worden waren. Sonst gäbe es hier wohl noch heute äsende Hirsche. Dass die Tiere damals nicht zur Zierde gehalten wurden, sondern als Fleischlieferanten, verdrängte sie geflissentlich. Stephan sorgte zur Genüge dafür, dass sie den omnivoren Charakter der Menschheit nicht vergass.
    Sie seufzte tief. Jede Wohnung hatte einen Pferdefuss, ihre hatte Stephan. Unglücklicherweise war die Wohnung ohne Stephan Rothpletz nicht zu haben. Sie gehörte ihm. Flora hatte den Arzt an einem Puzzleabend in der Ludothek kennengelernt. Beide liebten sie Riesenpuzzles. Dann kam eines zum anderen. Flora kaufte sich Keith Harings «Double Retrospect», Stephan den massgezimmerten Tisch dazu. Abend für Abend verbrachten sie fortan in Stephans Wohnzimmer und fügten die 52’256 Teile langsam, aber stetig zu einem fünfeinhalb Meter langen und zwei Meter breiten Kunstwerk zusammen. Mit dem Einsetzen des viertausendsten Teilchens beschlossen sie, nicht nur das Hobby, sondern auch das Bett zu teilen. Und siebzehntausend Teilchen später zog Flora mit Elefantenfuss und rot-schwarzem Plüschgeier bei Stephan ein. Flora hätte ihr Bündel längst wieder gepackt, wäre die grosszügige Altbauwohnung nicht so verdammt charaktervoll gewesen: rohe Steinwände, hohe Decken, unverkleidete Holzbalken, dunkle Bodenfliesen und eine frei stehende Badewanne auf massiven Löwenfüssen. Das Einzige, was störte, waren Stephan, seine Billy-Regale und seine Essgewohnheiten.
    Schon im Entrée schlug Flora der Geruch nach gebratenem Fleisch entgegen. Sie hatte sich eingebildet, mit Stephans Steakvorliebe leben zu können. Ein fataler Irrtum, wie ihr jetzt die aufsteigende Übelkeit einmal mehr signalisierte. Traumwohnung hin oder her, so konnte es nicht weitergehen. Resigniert hängte sie ihre Tasche an das stilisierte Hirschgeweih neben der Eingangstür und begab sich in die Küche.
    Stephan stand mit dem Rücken zur Tür am Herd. Seine Schultern waren leicht vornübergebeugt. War dies seine übliche Haltung, oder hatte er Sorgen? Zu
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