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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit
Autoren: Anne Perry
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ungeduldig in Falten gelegt. »Mr. Rathbone, das Gericht ist immer geneigt, einem Angeklagten auf jedwede Weise entgegenzukommen, aber Sie scheinen unsere Zeit zu vergeuden. Ihre Zeugen sagen alle ein und dasselbe, und die Anklage bestreitet nicht das geringste davon. Ist es wirklich nötig, noch fortzufahren?«
    »Nein, Euer Ehren«, gestand Rathbone lächelnd ein. Er sagte das mit einer kaum unterdrückten Erregung im Ton, was im Saal zu einer gewissen Unruhe führte: Man setzte sich zurecht, richtete sich auf, es wurde wieder spannend. »Ich habe nur noch eine letzte Zeugin, von der ich vermute, daß sie meine Beweisaufnahme zum Abschluß bringt.«
    »Dann rufen Sie sie auf, Mr. Rathbone und kommen Sie zum Schluß«, sagte Hardie scharf.
    »Ich bitte Lady Berenice Ross Gilbert in den Zeugenstand rufen zu dürfen«, sagte Rathbone laut.
    Lovat-Smith legte die Stirn in Falten und beugte sich vor.
    Sir Herbert auf der Anklagebank lächelte wie immer. Nur über seinen Blick legte sich ein kaum merklicher Schatten.
    »Lady Berenice Ross Gilbert!« rief der Gerichtsdiener, und der Name wurde draußen aufgenommen und hallte durch den Korridor.
    Kreidebleich, aber hoch erhobenen Hauptes trat sie ein und sah weder rechts noch links, als sie den Saal Richtung Zeugenstand durchquerte, die Treppe hinaufstieg und sich Rathbone zuwandte. Nur ein einziges Mal warf sie einen kurzen Blick auf die Anklagebank, aber ihr Gesichtsausdruck dabei war nicht zu entziffern. Falls sie Philomena Stanhope auf der Galerie entdeckt hatte, so ließ sie sich das nicht anmerken.
    Man erinnerte sie daran, daß sie nach wie vor unter Eid stand.
    »Dessen bin ich mir bewußt!« sagte sie bissig. »Ich habe nicht die Absicht, etwas anderes zu sagen als die Wahrheit!«
    »Sie sind die letzte Zeugin, die ich aufrufe, um über den Charakter und die Qualitäten des Mannes auszusagen, der hier des Mordes angeklagt ist.« Würdig und elegant trat Rathbone in die Mitte des Saals, stand einen Augenblick da und sah zur Anklagebank hinauf.
    »Lady Ross Gilbert«, Rathbone wandte sich ihr wieder zu, »Sie leisten seit einiger Zeit hervorragende Arbeit im Verwaltungsrat des Hospitals. Haben Sie Sir Herbert während dieser Zeit kennengelernt?«
    »Natürlich.«
    »Nur beruflich, oder kennen Sie ihn auch persönlich?«
    »Nur am Rande. Er geht nicht gern auf Gesellschaften. Ich kann mir vorstellen, daß er zu sehr mit seiner Kunst beschäftigt ist.«
    »Das haben wir bereits gehört«, pflichtete Rathbone ihr bei.
    »Ich glaube, eine Ihrer Pflichten als Angehörige des Verwaltungsrates besteht darin, sich der Moral der Krankenschwestern dort zu vergewissern.«
    Hardie seufzte ungeduldig. Einer der Geschworenen hatte die Augen geschlossen.
    »Das ist kaum möglich«, sagte Berenice und verzog verächtlich den Mund. »Ich kann nur dafür sorgen, daß ihr Verhalten sich wenigstens so lange in einem akzeptablen Rahmen hält, solange sie sich dort aufhalten.«
    Amüsiertes Gekicher im Saal. Der Geschworene öffnete wieder die Augen.
    Richter Hardie beugte sich vor. »Mr. Rathbone, wenn Sie ein neues Argument vortragen wollen, dann tun Sie das bitte!«
    »Selbstverständlich, Euer Ehren. Ich entschuldige mich. Lady Ross Gilbert, ist bei Ihrem Kontakt mit den Schwestern auch nur eine einzige Beschwerde gegen Sir Herbert laut geworden?«
    »Nein. Ich denke, das habe ich bereits gesagt.« Sie legte die Stirn in Falten und setzte eine ungeduldige Miene auf.
    »Ihres Wissens nach war seine Beziehung zu Frauen also immer rein beruflich?«
    »Ja!«
    »Und moralisch tadellos?« sagte er beharrlich.
    »Nun…« Sie zögerte.
    Hardie sah sie mit einem Stirnrunzeln an.
    Sir Herberts Selbstsicherheit geriet ins Schwanken.
    »War sie oder war sie es nicht, Lady Ross Gilbert?« wollte Rathbone wissen, einen gewissen Eifer im Ton.
    »Das hängt davon ab, was Sie unter Moral verstehen«, antwortete sie.
    Plötzlich hörten wieder alle zu, man spitzte die Ohren, um sich nicht ein Wort, eine Nuance entgehen zu lassen.
    »Auf welche moralische Kategorie bezieht sich Ihre Schwierigkeit, die Frage zu beantworten?« wandte sich Hardie an sie. »Und denken Sie daran, daß Sie unter Eid stehen, Madam.«
    Jetzt herrschte Totenstille im Saal. Alle Gesichter waren ihr zugewandt. Aber sie zögerte nach wie vor.
    Sir Herbert beugte sich über die Brüstung der Anklagebank, das Gesicht angespannt, zum erstenmal flackerte echte Angst in ihm auf.
    »Haben Sie Sir Herbert einen Vorwurf zu machen, was
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