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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit
Autoren: Anne Perry
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gegenüber einer Frau, die – in welchem Ausmaß auch immer – sexuell genötigt worden war, reichte von lüsterner Neugier bis zu der Überzeugung, daß sie dafür selbst verantwortlich war. Oft fühlte sich sogar die Betroffene, ungeachtet der tatsächlichen Umstände, aus irgendeinem unerfindlichen Grund schuldig – schließlich konnte so etwas kaum einer Unschuldigen passieren. Vielleicht bewältigten die Leute so den Schrecken, den eine solche Tat hervorrief, die Angst, womöglich selbst Opfer zu werden. War die Frau auf die eine oder andere Art selbst daran schuld, so mußte sich so etwas durch Rechtschaffenheit und Vorsicht vermeiden lassen. So einfach war das.
    »Ich möchte, daß Sie herausfinden, wer es gewesen ist, Mr. Monk«, sagte sie noch einmal und sah ihn ernst an.
    »Und sollte mir das gelingen, Mrs. Penrose«, fragte er sie, »haben Sie sich überlegt, was Sie dann tun? Ich entnehme der Tatsache, daß Sie nicht zur Polizei gegangen sind, daß Sie keine gerichtlichen Schritte einleiten wollen?«
    Ihre helle Haut wurde noch blässer. »Nein, selbstverständlich nicht!« sagte sie heiser. »Sie müssen sich darüber im klaren sein, was so ein Prozeß bedeuten würde. Meiner Ansicht nach wäre das womöglich schlimmer als… als der Vorfall selbst, so schrecklich er auch gewesen sein mag.« Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein, auf keinen Fall! Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie die Leute über jeman…«
    »Die habe ich«, unterbrach er sie rasch. »Und ich weiß auch, daß die Chancen für einen Schuldspruch nicht sehr gut stehen, es sei denn, es ist zu erheblichen Verletzungen gekommen. Wurde Ihre Schwester verletzt, Mrs. Penrose?«
    Sie senkte die Augen, und eine schüchterne Röte überzog ihre Wangen. »Nein, nein, das nicht – jedenfalls nicht zu solchen, die nachzuweisen wären.« Sie wurde noch leiser. »Ich hoffe, Sie verstehen, wenn ich es vorziehe… Es wäre anstößig, so etwas eingehender zu erörtern…«
    »Ich verstehe.« Was durchaus nicht nur so dahin gesagt war. Er konnte nicht sagen, ob die betreffende junge Dame nun tatsächlich Opfer einer Nötigung geworden war oder ob sie diese ihrer Schwester gegenüber nur vorgeschoben hatte, um eine moralische Entgleisung zu erklären. Sicher war, daß er bereits ein entschiedenes Mitgefühl für diese Frau da verspürte. Was immer passiert war, sie stand am Anfang einer Tragödie.
    Unsicher, aber hoffnungsvoll sah sie ihn an. »Können Sie uns helfen, Mr. Monk? Wenigstens so lange unser Geld reicht? Ich habe etwas von meinem Kleidergeld gespart und kann Ihnen insgesamt zwanzig Pfund bezahlen.« Sie wollte ihn weder beleidigen noch selbst in finanzielle Nöte geraten, und doch wußte sie nicht, wie sich beides vermeiden ließ.
    Ungewohntes Mitleid regte sich in ihm. Ein Gefühl, das für ihn ganz und gar nicht selbstverständlich war. Bei all dem Leid, das er gesehen hatte, physisch schlimmeres meist als das von Julia Penrose, hatten sich seine Gefühle schon vor langer Zeit erschöpft; er hatte sich eine rauhe Schale zugelegt, die ihn vor dem Wahnsinn bewahrte. Sein Zorn veranlaßte ihn zum Handeln; aber am Ende eines Tages wurde er exorziert, damit Monk seinen verdienten Schlaf finden konnte.
    »Das wird vollauf genügen«, sagte er ihr. »Entweder gelingt es mir, den Schuldigen zu finden, oder ich sage Ihnen, daß es unmöglich ist. Ich gehe davon aus, daß Sie Ihre Schwester gefragt haben und sie es Ihnen nicht sagen kann?«
    »Das habe ich in der Tat«, antwortete sie. »Aber es fällt ihr verständlicherweise schwer, sich an den Vorfall zu erinnern, die Natur geht uns bekanntlich dabei zur Hand, Dinge zu vergessen, die ihrer Schrecklichkeit wegen nicht zu ertragen wären.«
    »Ich weiß«, sagte er mit ebenso grober wie beißender Ironie, deren Grund ihr freilich unverständlich blieb. Es war noch kaum ein Jahr her, im Sommer 1856, kurz nach Ende des Krimkriegs, daß er nach einem schweren Kutschenunglück auf dem schmalen grauen Bett eines Krankenhauses aufgewacht war. Er mußte feststellen, daß er nichts über sich wußte, noch nicht einmal seinen Namen, und der Gedanke, im Armenhaus gelandet zu sein, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Zweifelsohne war der Gedächtnisverlust die Folge eines Schädelbruchs, aber selbst als sich Erinnerungsfetzen einzustellen begannen, enthielt ihm ein entsetzliches Grauen, die Angst vor einer unerträglichen Wahrheit, den größten Teil vor. Andere nach seiner Vergangenheit
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