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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit
Autoren: Anne Perry
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er einen älteren Herrn im Gehrock anrempelte. Er entschuldigte sich mechanisch, und der Mann starrte ihm aufgebracht und mit gesträubten Barthaaren hinterher. Ein offener Landauer mit einer Gruppe junger Frauen kam vorbei; als eine von ihnen einem Bekannten zuwinkte, steckten sie kichernd die Köpfe zusammen. Die Bänder an ihren Hauben tanzten in der Brise, und ihre mächtigen Röcke erweckten den Eindruck, sie säßen auf Bergen geblümter Kissen.
    Monk hatte längst den Entschluß gefaßt, die Gefühlswelt seiner Vergangenheit ruhen zu lassen. Er wußte mehr über Hermione, als ihm lieb war; auch über den Mann, der ihm Gönner und Mentor gewesen war, hatte er einiges herausgefunden und auf den Rest geschlossen: Er hätte ihn in sein erfolgreiches Geschäft eingewiesen, hätte man ihn nicht betrogen und ruiniert – ein Schicksal, vor dem Monk ihn mit aller Kraft zu bewahren versuchte, aber er hatte versagt. In diesem Augenblick, in der Empörung über diese Ungerechtigkeit, hatte er der Geschäftswelt den Rücken gekehrt und war zur Polizei gegangen. Um solche Verbrechen zu bekämpfen. Obwohl er, soweit er sich erinnern konnte, gerade diesen speziellen Betrüger nie gefaßt hatte. Aber, so Gott wollte, er hatte es wenigstens versucht. Er konnte sich einfach nicht mehr erinnern, und ihm wurde schlecht bei dem bloßen Gedanken an den Versuch – womöglich brachte er noch weitere häßliche Einzelheiten über den Mann an den Tag, der er einmal gewesen war.
    Aber brillant war er gewesen! Nichts, was auch nur einen Schatten des Zweifels darauf geworfen hätte. Selbst seit dem Unfall hatte er bereits die Fälle Grey, Moidore und Carlyon gelöst. Nicht einmal sein ärgster Feind – und bisher schien ihm das Runcorn, obwohl er nicht wußte, wen er sonst noch so ausgraben mochte –, nicht einmal Runcorn hatte ihm vorgeworfen, daß es ihm an Mut, Ehrlichkeit oder bedingungsloser Hingabe an die Wahrheit gefehlt hätte; ganz zu schweigen von seiner Bereitschaft, sich bis zum Umfallen ins Zeug zu legen. Obwohl es den Anschein hatte, als hätte er dabei auch andere nicht eben geschont!
    Wenigstens mochte ihn John Evan gut leiden, obwohl er ihn erst seit dem Unfall kannte; aber wie auch immer, er hatte ihn gern. Und Evan hatte auch dann die Beziehung zu ihm nicht ganz abgebrochen, als Monk aus der Polizei ausgeschieden war. Es war mit das Beste, was ihm je passiert war, und Monk hielt die Beziehung in Ehren als etwas Wichtiges, Wertvolles, eine Freundschaft, die er pflegte und vor seinem hitzigen Temperament und seiner scharfen Zunge zu schützen versuchte. Hester Latterly dagegen stand auf einem ganz anderen Blatt. Sie hatte im Krimkrieg als Krankenschwester gedient, und jetzt, zu Hause in England, hatte man keine Verwendung für eine hochintelligente und noch weitaus eigensinnigere junge Frau – das heißt, so jung war sie auch wieder nicht mehr! Sie war sicher schon dreißig, zu alt, um noch ernsthaft an eine Ehe zu denken, und damit vom Schicksal dazu bestimmt, ihren Lebensunterhalt weiterhin selbst zu bestreiten, wollte sie nicht von der Großzügigkeit eines männlichen Verwandten abhängig sein. Und das war das letzte, was Hester wollte!
    Zunächst hatte sie eine Anstellung in einem Londoner Krankenhaus gefunden, wenn auch nur für kurze Zeit, dann hatten ihre allzu offenen Ratschläge an die Herren Ärzte und schließlich – der Gipfel der Aufmüpfigkeit – die eigenmächtige Behandlung eines Patienten zu ihrer Entlassung geführt. Die Tatsache, daß sie dem Patienten so gut wie sicher das Leben gerettet hatte, machte es nur noch schlimmer. Schwestern waren dazu da, die Stationen sauberzuhalten, die Fäkalieneimer zu leeren, Bandagen aufzurollen und ganz allgemein das zu tun, was man ihnen sagte. Die Medizin war ausschließlich den Ärzten vorbehalten.
    Sie hatte sich daraufhin der privaten Krankenpflege zugewandt. Gott allein wußte, was sie in diesem Augenblick trieb: Monk jedenfalls nicht.
    Er war in der Hastings Street angelangt. Nummer vierzehn lag nur wenige Meter weiter auf der anderen Seite. Er ging hinüber, stieg die Treppe hoch und klingelte an der Tür. Es war ein anmutiges Haus im neugeorgianischen Stil mit einer Aura gesetzter Respektabilität.
    Ein, zwei Augenblicke später öffnete ihm ein Dienstmädchen in einem steifen blauen Kleid, weißer Haube und Schürze.
    »Der Herr wünschen?« fragte sie.
    »Guten Tag.« Er hatte seinen Hut in der Hand, wie es sich gehörte, schien aber durchaus zu
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