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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators
Autoren: Lisa Moore
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niederschmetternd, dass er solchen Hass empfinden konnte.
    Du kriegst das Geld, sagte er. Er wartete auf eine Antwort. Er hatte den Jungen bei lebendigem Leib verbrennen lassen wollen. Isobel hatte mit ihm geschlafen, er hatte sie berührt.
    Leg nicht auf, sagte er. Bitte.
    Sie konnte nicht sprechen, und der Hörer glitt ihr fast aus der Hand, aber sie legte nicht auf. Sie konnte es nicht. Sie spürte durch das Schweigen am Telefon, dass er sie nicht noch einmal anrufen würde. Wo immer er auch landete, er würde nicht zurückkehren, würde nicht mehr rauskommen. Er wusste das. Sie würde nicht einfach auflegen.
    Ich habe niemanden außer dir, sagte er.
    Sie wartete.
    Der Wind riss Frank fast die Tür aus der Hand. Isobel duckte sich unter seinen Arm.
    Ich bin zufällig hier vorbeigekommen, und da dachte ich, vielleicht sind meine Karten ja fertig, sagte sie. Sie nahm ihre transparente Regenhaube ab und zog die Bänder zusammen, sodass Wassertropfen davon absprangen.
    Ihre Schönheit verschlug ihm fast den Atem. Er verkniff es sich gerade noch, das laut auszusprechen, denn sie waren allein im Raum. Es war kurz vor Ladenschluss. Er schaltete das Licht wieder an.
    Ich hole rasch das Muster, sagte er. Sie sah ihm nach, als er nach hinten verschwand. Sie hatte mal bei einer polnischen Schauspieltruppe mitgewirkt. Damals hatten sie nackt in einem Wald im nördlichen Ontario geprobt. Chris führte Regie. Sie kannten sich noch nicht lange, waren sich in Montreal bei der Arbeit an einem Stück von Artaud begegnet. Welches Stück hatten sie dort im Wald geprobt? Einer von Chris’ Schauspielern maß fast zwei Meter zehn und hatte einen kanariengelben Irokesenschnitt. Chris wollte, dass sie sich nackt im Schlamm wälzten. Zwanzig war sie damals gewesen, die Jüngste der Truppe.
    Was hatte er gesagt, als er sie allein vor sich hatte, in diesem Birkenwäldchen, weiß, rosa, blau, das von Sonnenstrahlen durchzuckt wurde? Sie stand nackt vor ihm, und der Regen rann über den Schlamm auf ihren Schienbeinen, den Schlamm auf ihrem Gesicht – jemand hatte ihr einen Batzen Schlamm ins Gesicht geworfen. Sie waren fast alle auf LSD. Auch sie war auf LSD. Chris hatte alles gefilmt. Sie würden auf LSD Macbeth aufführen, so Chris’ Idee. Er wollte, dass sie den Text sprachen, als wäre er bereits gesprochen worden.
    Vor lauter Regen sah sie fast nichts.
    Was hätte sie dafür gegeben, rückhaltlos an sein Projekt glauben zu können, an das radikale Leben, für das er warb. Er behauptete, Sicherheit würde sie alle zu Nullen machen. Hatte die nackten Arme zum Himmel gereckt, den Kopf in den Nacken geworfen und gebrüllt: zu Nullen.
    Seid überzeugend, hatte Chris gesagt. Das war sein Rat. Die ultimative Lektion für jeden Schauspieler, auf den Inhalt kam es nicht an.
    Gib alles, hatte er gesagt. Er wollte sie leer. Er wollte, dass sie sich selbst aufgab. Chris schärfte ihnen ein, nie zu vergessen, dass sie nicht das waren, was sie zu sein vorgaben. Das sei moralisch verwerflich, solchen Stanislawski-Quatsch werde er nicht dulden. Sie mussten gleichzeitig sein, wer sie waren und wer sie nicht waren. Weniger würde er nicht akzeptieren. Wir überzeugen, brüllte er.
    Und als sie ihm dann später wieder begegnete, war es beim Vorsprechen für diese Vorabendserie. Sie war in den Raum getreten und hatte wegen des Rampenlichts zunächst nichts gesehen. Dann wurden die Schweinwerfer ausgeschaltet, und da saß er. Seine Augen hatten noch den gleichen verrückten Ausdruck. Doch es war eine Vorabendserie, er führte Regie bei einer Vorabendserie.
    Als sie danach die Yonge Street entlanggegangen war, hatte sie geweint. Denn sie wollte, dass jener nackte Nachmittag im Wald sie nicht getrogen hatte – der Schlamm und der Regen, das LSD und die Gefühlsausbrüche. Sie selbst wollte dieses Leben nicht führen, aber es sollte weiter bestehen.
    Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand sie vor der riesigen Pinnwand mit Geschäftskartenmustern. Frank schob ihr ihre Karte über den Tresen zu, und sie hielt sie mit ausgestrecktem Arm vor sich. Es nahm sie etwas mit, den Jungen zu erleben, auch wenn er nicht wusste, wer sie war. Sie hatte ihn mit eigenen Augen sehen wollen. Sie wollte sicher sein, dass sein Gesicht nicht von Narben entstellt war.
    Sie klappte ihre Brille auf und setzte sie sich auf die Nasenspitze. Sie trug die Brille an einem dieser Bänder um den Hals, obwohl sie sich eigentlich zu jung dafür fühlte. Sie betrachtete die Karte
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