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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators
Autoren: Lisa Moore
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Colleen
    Es fängt damit an, dass ein Alligator mit aufgesperrtem Maul auf einer Schotterstraße liegt. Der Rücken des Mannes ist nackt und glänzt vom Schweiß, und dann sind da diese Bäume, von denen Spanisches Moos herunterhängt. Das Ganze ist überbelichtet. Die Sonne brennt erbarmungslos herunter. Um den Mann und den Alligator hat sich eine kleine Zuschauermenge gebildet. Vorne ein paar Kinder, ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, das einen silbernen Heliumballon ans Handgelenk gebunden hat.
    Der Ballon sieht heiß aus. Aus irgendeinem Grund verweilt die Kamera auf dem Ballon. Vielleicht hat der Kameramann vergessen, weshalb er eigentlich da ist. Der Ballon sieht aus wie ein Loch, das in den Himmel gebrannt wurde. Es ist windstill, doch wenn das kleine Mädchen sich bewegt, ruckt der Ballon. Er ruckt zur Seite, hüpft auf und ab, und dann beruhigt er sich wieder und steht ganz still in der Luft. Keine Wolke weit und breit. Die blonden Haare fallen dem kleinen Mädchen über die Schultern, hier und da scheint die Sonne hindurch, und sie sind elektrisch aufgeladen, an manchen Stellen stehen sie hoch und flirren im Sonnenlicht. Die Filmaufnahmen von dem Alligator sind Teil eines Schulungsvideos über die Sicherheit in Kernkraftwerken.
    Irgendein Kraftwerk in Ontario.
    Meine Tante Madeleine hat in den 1970er und 80er Jahren eine Menge Schulungsvideos für die Industrie gedreht. Eine Weile hat sie sich mit Sicherheitsvideos ihren Lebensunterhalt verdient. Sie hatte da eine Nische gefunden. Ich habe mir Archivaufnahmen von ihr angeschaut, und da bin ich auf diesen Mann gestoßen, der den Kopf in das Maul eines Alligators hält.
    Die Szene hat etwas Billiges. Der Mann stolziert herum, versucht die Zuschauer in Stimmung zu bringen. Sein Körper glänzt, Schweißtropfen bedecken seinen Rücken, er versucht, Spannung zu erzeugen. Aber die Hitze scheint ihm ziemlich zuzusetzen.
    Der Alligator rührt sich nicht. Er sieht aus wie ein Baumstamm, der auf der Straße liegt.
    Doch zugleich sieht er nicht vertrauenswürdig aus. Er wirkt irgendwie verschlagen in seiner Reglosigkeit, dabei schläft er vielleicht einfach nur. Ja, wahrscheinlich schläft er einfach.
    Ein flimmernder Hitzeschleier hängt über dem Boden, und der Mann läuft durch ihn hindurch. Alles, was man durch diesen Schleier sieht, ist farbkräftig und verzerrt. Das Mädchen mit dem Ballon hat ein rotes Kleid an, das über der Person neben ihr zu schweben scheint, einer älteren Frau mit Strohhut, die auf einem Campingstuhl sitzt. Zwei Gehstöcke lehnen an ihren Knien. Der Aluminiumrahmen des Stuhls sieht aus, als könnte man sich daran verbrennen.
    Einige Zuschauer fächeln sich mit Blättern, wohl eine Art Programm, Luft zu.
    Der Hitzeschleier ist eine Warnung, wie etwas, was man in einer Kristallkugel sehen könnte, eine Warnung vor etwas Schlimmem.
    Dann kommt ein Schnitt.
    Ich lade mir auch die Enthauptungen aus dem Netz herunter. Sie sind verfügbar. Eine nasse Betonwand, und davor ein Mann mit schwarzer Kapuze, der auf dem Betonboden kniet, neben einem Abfluss, so wie es aussieht, ein paar Leute schlendern hinter ihm vorbei, und dann erscheint das Hackmesser. Es dauert, bis sie heruntergeladen ist, langsam und grobkörnig, aber manchmal geht es auch ganz schnell. Ich schaue immer nur bis zu dem Moment, wo das Hackmesser erscheint, aber bis dahin schaue ich aus einer Art Pflichtgefühl, denn ich will nicht, dass dieser Mann allein ist. Es sieht aus wie in einem Gefängnishof. Über der Betonmauer sieht man Palmwedel. Auch hier scheint es sehr heiß zu sein.
    Eine Weile habe ich mir jeden Abend eine dieser Enthauptungen angesehen, der Mann mit der Kapuze, hinter ihm zwei Männer mit Gewehren, ein Glitzern, als die Sonne auf das Bajonett trifft. Nach dem zweiten Glitzern auf dem Bajonett bleibt der Mann mit der Kapuze stehen, und die Kapuze dreht sich zur Kamera. Er ist schmächtig, dieser Mann, und seine Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Kurz nur dreht er den Kopf zur Kamera, wobei er vermutlich nicht weiß, wem oder was er sich da zuwendet. Einer der Soldaten hinter ihm, jedenfalls sehen sie aus wie Soldaten, gibt ihm einen Schubs. Ich schaue zu, denn wie einsam muss es sich anfühlen, so fern von zu Hause zu sterben, ohne dass jemand dabei ist.
    Ich bin dabei.
    Ich höre auf zu gucken, bevor sie die Tat begehen, nicht weil ich Angst davor hätte, sondern aus Respekt. Das alles in einem pink gestrichenen Zimmer mit pinkfarbenem Betthimmel in
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