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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators
Autoren: Lisa Moore
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auf sich zukommen. Er eilt vorwärts, Stirn zuerst, und die Ärmel seiner schwarzen Robe bauschen sich. Das reflektierte Licht der Neonröhre saust über seine glänzende Glatze wie ein fahrender Zug.
    Sie nimmt an, dass er Richter ist; er überragt sie. Colleen ist siebzehn, schmächtig, sie hat sehr helle Haut und über der Nase ein paar zarte Sommersprossen. Ihr Haar ist kraus, fast schwarz, wie Bitterschokolade, und im Nacken mit einem regenbogenfarbenen Schnürsenkel zusammengebunden. Sie trägt eine offene, unschuldige Miene zur Schau. Doch kürzlich ist sie bei dem Versuch erwischt worden, Forstgeräte im Wert von mehreren tausend Dollar zu zerstören. Colleen Clark hatte Zucker in die Benzintanks mehrerer Bulldozer gekippt, die einem gewissen Mr. Gerry Duffy gehören; der Diversionstermin war für Anfang August angesetzt, und sie hatte sich den ganzen Juli über abwechselnd selbstsicher und dann wieder unsicher gefühlt. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass der Tag vorbei sein würde. Und sie hatte ihre ganze Vorstellungskraft auf den restlichen Sommer nach dem Termin gerichtet. Dass sie in einem Fahrstuhl stehen würde, um wenig später Mr. Duffy gegenüberzutreten, hatte sie sich allerdings nicht vorgestellt. Sie hatte sich nicht diesen Richter vorgestellt oder die Schweißtröpfchen, die sie am Haaransatz auf ihrer Stirn spürte. Sie hatte sich nicht das Maß und die Färbung ihrer Furcht vorgestellt.
    Mr. Duffy wartet in einem Büro einige Stockwerke weiter oben, um mit ihr darüber zu sprechen, welcher Schaden entstanden ist und wie sie ihren Vandalismus durch gemeinnützige Arbeit abbüßen könnte.
    Colleen betrachtet das Spiegelbild des Richters in der Messingverkleidung des Fahrstuhls. Seine Brauen hängen ihm in die wässerigen Augen. In dem polierten Metall ist sein Gesicht verzerrt.
    Der scharfe Geruch von Rasierwasser steigt ihr in die Nase, sie schmeckt es hinten am Gaumen. Mit sechs hat sie ihrem Vater eine Präsentpackung mit vier Flaschen Aqua Velva zu Weihnachten geschenkt. Eigentlich war David ihr Stiefvater, aber sie hat das nie so empfunden. Für sie war er immer ihr Vater, und an jenem Weihnachten war sie von der Idee besessen, ihm etwas zu schenken. Sie hatte in dem Jahr zum ersten Mal Taschengeld bekommen und den größten Teil davon in einem rosa Plastiksparschwein mit Gummistöpsel im Bauch gesammelt. Sie hatte die Scheine mit einer Gabel herausangeln müssen.
    Als Colleen und ihre Mutter Beverly zwei Tage vor Weihnachten den Wal-Mart in der Avalon Mall betreten wollten, Wind und Schneegestöber im Rücken, wurden sie von einer Frau mit weißer Schürze, auberginefarbenem Lippenstift und großen Zähnen empfangen, die ein Gerät mit einem Satz surrender Klingen an eine Karotte hielt, woraufhin hauchdünne Scheibchen durch die Luft flogen.
    Was man da an Zeit sparen könnte, hatte Beverly gesagt und in die Hände geklatscht. Beverly hatte kurzes lockiges Haar, das sie, sobald die ersten silbernen Strähnen an ihren Schläfen erschienen waren, radikal tiefschwarz gefärbt hatte. Sie hatte große, auffällige, strahlende Augen – das Weiß unterhalb der Iris war sichtbar. Die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln verliehen ihrem Gesicht etwas Eindringliches, Markantes. Sie konnte hingerissen oder sehr kritisch dreinschauen, doch wenn sie lächelte, veränderte sich ihr Gesicht vollkommen. Wenn Beverly lächelte, sah sie mädchenhaft und auf eine übermütige Weise großzügig aus. Ihre Gefühle zeichneten sich zu unverhohlen und deutlich auf ihrem Gesicht ab, als dass man sie für hübsch gehalten hätte. Aber sie war außerordentlich attraktiv.
    Die Frau mit dem Gemüseschneider nahm sich jetzt eine Zwiebel vor und dann wahrhaftig sogar ein Stück dunkelrotes Fleisch. Was immer in die Nähe der surrenden Klingen geriet, behielt noch für den Bruchteil einer Sekunde seine Form und zerfiel dann in tausend schlaffe Scheiben.
    Es schneite schon seit dem frühen Morgen. Der Parkplatz lag unter einer Schneedecke, und die Autos mit ihren weichen weißen Hauben sahen friedlich aus, wie aneinandergedrängt. Männer und Frauen in orangefarbenen Westen schwenkten Leuchtstäbe, um den Verkehr zu regulieren. Das Scheinwerferlicht der Busse durchschnitt den grauen Dämmer des Nachmittags.
    Das Aqua Velva war das erste Geschenk in Colleens Leben, das sie selbst ausgewählt hatte. Ein Turm aus Schachteln, die raffiniert, immer ein wenig versetzt, aufeinandergestapelt waren, sodass
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