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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators
Autoren: Lisa Moore
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Als sie ihn gebeten hatte, bei der Geburt dabeizusein, war er knallrot geworden.
    Wir sind doch Freunde, oder?, hatte sie gefragt. Er hatte gesagt, es werde ihm eine Ehre sein.
    Beverly besuchte den Geburtsvorbereitungskurs allein, sie hatte sich an dem Wochenende bevor sie herausfand, dass sie schwanger war, von ihrem Freund getrennt. Abtreibung kam nicht in Frage; die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, hatte sie schnell mit Begeisterung erfüllt. Die Schwangerschaft schärfte ihre Sinne, gab ihr etwas Strahlendes, machte sie weicher. Sie wurde anmutiger und bedächtiger.
    Dem Vater, einem lahmen katholischen Anwalt, der bei seiner Mutter wohnte, hatte sie es bei einem Mittagessen in der Stadt erzählt.
    Er hatte seine Serviette zu einem Ball zusammengeknüllt, die Faust gehoben, die Serviette fallen lassen. Sie sahen beide zu, wie sie sich auf dem Tisch entfaltete. Die Serviette öffnete sich wie eine Blüte in einem Zeitrafferfilm.
    Wie konntest du zulassen, dass das passiert?, zischte er. Was sie für Sanftmut gehalten hatte – seine ruhige, bescheidene Art – war tatsächlich Selbstzufriedenheit. Lahm und nörgelig, stellte sie fest. Sie wartete auf das, was kommen musste. Beobachtete, wie eine unverschämte, verzweifelte Hoffnung sein Gesicht erhellte.
    Bist du sicher, dass es von mir ist?, fragte er. Seine Stimme war schwach. Kaum mehr als ein Flüstern.
    Sie hatte ihn aus einer Art Pflichtgefühl einbeziehen wollen. Es erstaunte und erleichterte sie, zu sehen, dass er sich vor ihren Erwartungen fürchtete.
    David hatte während des ganzen Kurses Scherze gemacht, er hatte der Barkeeperin in den Pausen Tee geholt, gewartet, bis sie den ersten Schluck genommen und kommentiert hatte und war dann zurück in die Cafeteria gegangen, um ihr noch mehr Milch oder Zucker zu besorgen. Beim Ansehen der Geburtsvideos hatte er feuchte Augen bekommen, und als das Licht wieder anging, hatte er der Barkeeperin energisch über den Bauch gestrichen, als könnte er es gar nicht erwarten.
    Viele der Männer hatten den Blick auf den Boden geheftet, erzählte Beverly, aber David schaute gebannt zu, so wie die Frauen alle. Eines Abends stand sie an der Verkaufstheke von Tim Hortons zufällig hinter ihm in der Schlange. Sie unterhielten sich über den Regen und den Verkehr, und dann weiteten sich Beverlys Augen schlagartig, weil sie einen Tritt im Bauch gespürt hatte – ein Ausdruck blanker Ehrfurcht breitete sich auf ihrem Gesicht aus –, und David verliebte sich zum ersten Mal in seinem Leben.
    Deine Mutter war einfach verflucht schön, hatte er oft zu Colleen gesagt. Colleen liebte ihn mit einer Loyalität, die verhinderte, dass sie allzuviele Fragen über ihren leiblichen Vater stellte. Sie hatte sich ein paarmal mit ihm getroffen, und er war ihr ältlich und fremd vorgekommen. Sie sah die Sache so: David hatte sie erwählt.

Colleen
    Als Colleen sechs war, ging in ihrer Klasse in der Vorweihnachtszeit ein Magen-Darm-Virus um. Während sie in dem Einkaufswagen saß, der in den Rollstuhl verkeilt war, spürte Colleen eine leichte Veränderung in ihrem Innern. Sie hätte nicht sagen können, wovor sie Angst hatte; die roten Gummistiefel der Frau waren zu bunt und kindlich.
    Colleens Stiefvater starb überraschend an einem Aneurysma, als sie dreizehn Jahre alt war. Im Beerdigungsinstitut hörte sie damals einen Mann sagen: Den hat’s gefällt wie eine Eiche. Der Tod, als er kam, war stur und harsch; er war, wie er war.
    Die Angst, die sie an jenem Tag im Einkaufszentrum verspürte, wurde durch den Lärm und ein aufkommendes Fieber gesteigert. Die Weihnachtskugeln schwankten, von einem rätselhaften Luftzug unter der Decke in Bewegung versetzt. Wenn sie daran zurückdenkt, spürt sie wieder jene gefährliche, zunehmende Durchlässigkeit, die Auflösung der Membran zwischen Kindheit und Erwachsenendasein.
    Sie würde bald um Dinge wissen, für die sie eigentlich noch zu jung war. Die Frau im Rollstuhl drehte den Kopf und rief: Himmelherrgottnochmal! Die grünen Lichter ihres Pullovers warfen ein Muster aus hüpfenden Flecken auf ihren Hals.
    Der Motor des blockierten Rollstuhls heulte auf, und es roch leicht nach heißem Metall. Colleens Mutter rüttelte heftig am Einkaufswagen, um ihn von dem Rollstuhl loszubekommen. Colleen wurde auf die eine Seite des Wagens geschleudert und mit der Wange an das Drahtgeflecht gepresst, fast wäre sie herausgefallen.
    Die Schaulustigen, die sich um sie geschart hatten, begannen ihnen
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