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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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Erster Teil
    Anfang November wehte ein kalter Wind vom Osten her und vertrieb die letzten milderen Herbsttage. An dem Morgen, als die erste dünne Schneedecke auf den Bergspitzen blinkte, kam Frau Brüggen zurück. Niemand hatte sie gesehen, niemand war ihr ins Tal entgegengelaufen, um ihr die beiden Holzkoffer zu tragen. Die Mädchen saßen noch beim Frühstück, als sie plötzlich in der Tür zum Speisesaal stand. Sie stellte die Koffer auf den Boden und stützte sich mit der Hand am Türpfosten ab. Die leisen Gespräche und das Klirren des Porzellans verebbten. Auch vom Lehrertisch her richteten sich die Blicke auf sie. In die Falten ihres Mantels drückte sich ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ängstlich starrte es in den Saal. Das Ende seines blonden Zopfs hielt es zwischen den Zähnen. Frau Brüggen hockte sich erschöpft auf einen der Holzkoffer.
    Dr. Scholten stand auf. Er schob den Stuhl zurück und ging mit langen, etwas staksigen Schritten durch den Mittelgang des Saals auf Frau Brüggen zu. »Gut, dass Sie wieder da sind«, sagte er und berührte sie leicht an der Schulter. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht. In den Nachrichten wurde vorige Woche gemeldet, dass es wieder einen schweren Bombenangriff auf Oberhausen gegeben hat. Gut, dass Sie jetzt bei uns sind.« Er schaute auf das Mädchen. »Wen haben Sie uns denn da mitgebracht?« Als Frau Brüggen nicht antwortete, wandte er sich an das Mädchen: »Wie heißt du?«
    »Ruth«, sagte das Kind, ohne den Zopf zwischen den Lippen wegzunehmen.
    Am anderen Ende des Saals sprang ein Mädchen auf. Ihr Stuhl stürzte um.
    »Irmgard! Was soll das?«, rief eine Lehrerin scharf. Das Mädchen antwortete nicht, lief zu dem Kind und blieb vor ihm stehen.
    »Ruth?«, flüsterte Irmgard. Das Kind schaute sie an und streckte ihr die Arme entgegen.
    »Kennt ihr euch?«, fragte Dr. Scholten verwundert.
    »Meine Schwester«, antwortete Irmgard. »Ruth ist meine Schwester.«
    »Das ist eine Überraschung in der Morgenstunde.« Dr. Scholten wandte sich wieder Frau Brüggen zu. »Ich glaube, Frau Kollegin, Sie müssen uns …« Dann stockte er. »Aber kommen Sie doch an unseren Tisch, Frau Brüggen. Für Erklärungen ist später noch Zeit. Frühstücken Sie erst einmal mit uns.«
    Irmgard hatte Ruth an sich gezogen.
    »Und du, Ruth, du kannst mit deiner Schwester zu den großen Mädchen gehen. Du wirst sicher auch Hunger haben.«
    Frau Brüggen setzte sich an den Lehrertisch und Frau Lötsche holte noch ein Gedeck aus der Küche.
    »Wie war es in Oberhausen?«, fragte Direktor Aumann, der seinen Platz am Kopf des Tischs hatte. »In den Nachrichten wurde der Angriff erwähnt, aber Genaueres haben wir nicht erfahren können.«
    »Es war die Hölle«, antwortete Frau Brüggen. »Aber ich kann jetzt nicht darüber sprechen.«
    »Und was ist mit der kleinen Zarski?« Der Direktor schien Schwierigkeiten zu befürchten und schaute Frau Brüggen vorwurfsvoll an. »Warum haben Sie das Kind hergebracht?«
    Frau Brüggen starrte eine Weile vor sich hin und sagte dann leise: »Sie ist meine Nichte. Sie muss hier bei uns bleiben.«
    »Aber Frau Brüggen!« Frau Lötsche lachte auf. »Das geht nun wirklich nicht. Ich meine, wir sind eine Oberschule und kein Kindergarten. Außerdem ist es problematisch genug, dass schon eine Ihrer Nichten hier in Maria Quell ist.«
    Der Direktor war überrascht: »Schon eine …? Dr. Scholten, wissen Sie auch davon?«
    »Frau Lötsche meint unsere Schülerin Irmgard Zarski. Aber die ist von Anfang an in unserer Schule und jetzt in der achten Klasse.« Direktor Aumann war verärgert. »Mit neun ist Ruth für unsere Schule eindeutig zu jung.« Dann besann er sich und sagte: »Kommen Sie später in mein Büro. Wir müssen darüber reden.« Hastig stand er auf. »Dr. Scholten und Sie, Frau Lötsche, Sie kommen dann bitte ebenfalls mit.« Dann ging er hinaus.
    Frau Lötsche wollte eilfertig aufstehen, aber Dr. Scholten hielt sie am Arm zurück. »Wir wollen zunächst in Ruhe fertig frühstücken.«
    Wenig später sprang der Zeiger der großen Uhr auf sieben Uhr vierzig. Die Lagermädelführerin Käthe Malik, eine blonde, schlanke Frau in Uniform, sicher noch nicht älter als zwanzig, läutete eine Glocke. »Acht Uhr Stubenappell, acht Uhr zwanzig Unterrichtsbeginn.« Die Mädchen stellten das Geschirr zusammen, das vom Tischdienst zur Durchreiche in die Küche getragen wurde. Sie drängten dem Ausgang zu. Die Lehrerinnen und Dr. Scholten blieben
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