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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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ihr würdet vorgezogen. Ist das klar?«
    Ruth nickte.
    »Anna Mohrmann ist heute zum Pfortendienst eingeteilt. Du hast beim Frühstück neben ihr gesessen. Bei ihr kannst du zunächst bleiben. Sie weiß schon Bescheid. Warte hier. Sie wird dich gleich abholen.«
    Wieder läutete die Glocke. Die Flure leerten sich.
    »Bis später«, sagte Irmgard und ging mit Frau Brüggen zum Unterricht.
    Ruth stand allein in dem dämmrigen Flur. Der Tisch wurde abgeräumt und von zwei Frauen weggetragen. Die ältere der beiden drehte sich um und entdeckte Ruth. Sie setzte den Tisch ab und sagte zu der anderen Frau:
    »Lutka, ruf die Vroni. Trag mit ihr den Tisch in den Speisesaal. Ich geh zu dem Kind.« Sie suchte von den Äpfeln, die übrig geblieben waren, einen besonders schönen aus und brachte ihn Ruth.
    »Magst den?«, fragte sie.
    Ruth nickte und nahm den Apfel.
    »Komm mit. Ich zeig dir mein Reich.« Sie nahm Ruth bei der Hand und ging mit ihr durch den Speisesaal in die große Küche. Ruth hatte noch nie einen so gewaltigen Herd gesehen. Er nahm die ganze Mitte des Raums ein. Aus mehreren großen Töpfen dampfte und zischte es. Andere Töpfe, Tiegel und Pfannen standen in einem Regal an der Wand und daneben hingen, der Größe nach aufgereiht, Schöpfkellen und Schaumlöffel. Alles blinkte und blitzte.
    »Na, was sagst dazu?«, fragte die Frau.
    »Wir hatten zu Hause auch eine schöne Küche«, antwortete Ruth, »aber jetzt liegt alles unter den Trümmern.«
    »Diese Terrorangriffe sind eine Schande«, sagte die Frau leise, »aber nach dem Endsieg soll alles schöner wiederaufgebaut werden.« Dann rief sie die beiden Küchenhilfen. »Das ist die Vroni. Sie kommt aus dem Dorf.«
    Vroni machte einen Knicks, als sie Ruth die Hand gab.
    »Und hier die Lutka. Die ist im vorigen Jahr aus Polen hierher. . .« Die Frau zögerte kurz. »Na, die Lutka haben sie her zu mir gebracht.«
    »Und wer sind Sie?«, fragte Ruth.
    »Na, die Hauswirtin bin ich. Ich koche und sorge dafür, dass bei euch Leib und Seele zusammenbleiben.«
    Ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren stürmte in die Küche und rief: »Frau Zitzelshauser, haben Sie nicht dieses neue …« Dann erblickte sie Ruth. Erleichtert atmete sie auf. »Da bist du ja. Ich hab dich gesucht. Ich bin die Anna. Komm mit. Ich hab heute Pfortendienst.«
    In der weitläufigen Eingangshalle gab es eine lang gezogene Theke. An der Wand dahinter stand ein hoher Schrank mit Türen, kleinen Schubladen, einem Schlüsselbrett und einem Regal mit vielen, vielen schmalen Einschüben.
    »Was ist das?«, fragte Ruth.
    »Für jedes Zimmer gibt es ein Fach. Siehst du die Nummern?«
    »Von 1 bis 275«, rief Ruth. »Das gibt’s ja gar nicht! Ein Haus mit 275 Zimmern?«
    Anna erklärte es ihr. »Das Haus hat drei Etagen. Ein Teil der Räume steht leer. Im Erdgeschoss fängt es mit Zimmer Nummer 1 an und geht bis 25. Die erste Etage beginnt mit 101 und die zweite mit 201. Zweiundsiebzig Zimmer also.«
    »Müssten aber fünfundsiebzig sein. Auf jeder Etage bis fünfundzwanzig.«
    »Rechnen kannst du ja. Eigentlich stimmt es auch. Aber hier im Quellenhof gibt es kein Zimmer mit der Nummer 13. Manche Gäste wollen so ein Zimmer nicht. Soll Unglück bringen.«
    »Glaubst du das?«
    Anna ging mit Ruth zur hinteren Tür der Halle. Ein langer eiserner Schlüssel hing an einem Haken an der Wand daneben. Anna steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. Von einer Terrasse aus führte ein Weg bergan direkt auf das Portal einer Kirche zu.
    »Das ist die Wallfahrtskirche Maria Quell«, sagte Anna. »Und das Haus daneben ist das Kloster. Da wohnen aber nur noch Pater Martin und Pater Lukas. Alle anderen sind als Sanitäter eingezogen worden. Ich bin zu Pater Martin hochgelaufen und hab ihn gefragt, was er davon hält, dass die Dreizehn Unglück bringen soll. Der Pater hat gesagt, so was ist Aberglaube und der reine Hokuspokus. Aber was sollte Frau Zitzelshauser machen, wenn es die Gäste grault, ein Zimmer mit der Nummer 13 zu beziehen?«
    Der Wind wehte durch die Tür ins Haus. »Zu Pater Martin können wir übrigens immer gehen, wenn uns der Schuh drückt«, sagte sie noch, dann schloss sie die Tür.
    »Wir müssen jetzt ins Kabuff. Es liegt hinter dem Empfang und ist für den Pfortendienst. Da ist geheizt. In der Halle würdest du bald zu einem Eiszapfen.«
    In dem kleinen Raum gab es ein Fenster, durch das man den Eingang beobachten konnte. Die Einrichtung bestand aus einem blauen Sessel und einem abgewetzten
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