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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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Dort konnte Ruth schlafen.«
    »Auf Heu und auf Stroh, das hatten wir doch schon mal«, sagte der Direktor, aber niemand lachte.
    »Ich habe meiner Schwester zugeredet wie einem kranken Gaul und ihr vorgeschlagen, dass ich Ruth nach Maria Quell mitnehme. Zuerst hat sie sich geweigert. ›Der Heinz in Russland, Irmgard bei euch weit hinter Wien, unser Albert in der Tschechei. Nein, die Ruth nimmt mir niemand weg‹, hat sie gesagt. Ich habe ihr geschildert, wie gut Ruth bei uns untergebracht werden könne. Hier sei sie wirklich sicher aufgehoben.«
    »Aber wie lange noch?«, sagte Dr. Scholten leise. »Seit letztem Winter und dem Desaster von Stalingrad kennt man an der Ostfront nur noch eine Richtung: Rückzug nach Westen.«
    Der Direktor fuhr ihn an: »Unterlassen Sie bitte diese zersetzenden Bemerkungen, Herr Kollege. Wir werden die Russen zurückwerfen. Wenn es sein muss, bis hinter den Ural.«
    »Nun, meine Schwester hat meinem Vorschlag schließlich zugestimmt, auch weil sie dienstverpflichtet ist und jeden Tag von sechs bis zwei zur Frühschicht in die Fabrik muss. Der Kollege Mausberg, bei dem Ruth vorher bleiben konnte, bis sie von der Arbeit kam, der … na, Sie wissen es ja. Ich musste meiner Schwester versprechen, dass ich das Kind wie meinen Augapfel hüte. Deshalb ist meine Nichte jetzt hier und wird auch bei uns bleiben.«
    Es blieb eine Weile still in der Runde. Schließlich räusperte sich der Direktor und sagte: »Trotzdem. Es ist verboten …«
    Dr. Scholten fiel ihm ins Wort: »Es gibt aber auch etwas, das über den Verboten steht. Einen Notstand sozusagen. Ich schlage vor, wir suchen nach einer Lösung, das Kind irgendwie hier unterzubringen. Sie haben doch sogar Esther Salm als externe Schülerin aufgenommen.«
    »Damals war ich noch ganz neu hier, Herr Kollege. Ich kannte die Vorschriften noch nicht. Sie hatten mich nicht hinreichend informiert. Heute ist das anders. Jetzt trage ich die Verantwortung für diese Schule, Herr Kollege. Ich werde mir keine Laus in den Pelz setzen.« Aus einem Stapel von Briefen zog er ein Blatt heraus. »Hier ist eine Ankündigung von der zuständigen Zentrale in Wien. In diesen Tagen wird unser Lager inspiziert. Der Verantwortliche von der Partei kommt mit einer Kommission. Stellen Sie sich den Skandal vor, wenn auffällt, dass …«
    »Ich verstehe Ihre Sorgen, Herr Direktor«, sagte Frau Brüggen. »Aber die Mädchen der ersten Klasse haben wir doch ausquartiert. Das Tannenhaus liegt abseits, am Ende der Straße. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Ruth unter den Mädchen dort auffällt.«
    »Und während des Unterrichts, was geschieht dann mit dem Kind?«
    »Ruth könnte zunächst in die vierte Klasse der Dorfschule im Tal gehen.«
    Dr. Scholten fand den Plan nicht schlecht. »Bei Esther Salm vom Haus oben am Berg hatten wir nicht so große Bedenken. Wir haben sie aufgenommen, obwohl das, wie Sie sagen, auch an den Vorschriften vorbei geschehen ist.«
    »Ja, zum Teufel. Das macht mir Kopfschmerzen genug.« Der Direktor blätterte nervös in seinen Papieren. Schließlich schlug er mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. »Machen Sie, was Sie wollen. Aber ich weiß von nichts. Ich übernehme keinerlei Verantwortung dafür.« Er setzte seine Brille auf und begann, die Dienstpost zu öffnen. Die beiden Frauen verließen das Büro. Dr. Scholten blieb noch da. Der Direktor schaute auf und fragte: »Sonst noch was?«
    »Tja, Herr Aumann. Mir ist etwas zu Ohren gekommen, vielleicht nur ein Gerücht, aber ich möchte Sie doch danach fragen. Es heißt, die Lagermädelführerin habe sich in Wien über mich beschwert, weil ich gelegentlich in der Kirche von Maria Quell die Orgel spiele.«
    »Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, Dr. Scholten, dass die engen Kontakte zu den Patres nicht erwünscht sind. Wir sollen unseren Schülerinnen ein Vorbild sein. Tatsächlich stelle ich fest, dass immer wieder das eine oder andere Mädchen in das Kloster läuft. Auf Ihren Spuren sozusagen. Was auch immer dort geschieht, etwas mehr Distanz wäre angebracht.«
    »Orgel spielen ist, so weit ich weiß, nicht verboten.«
    »Das nicht. Was mich betrifft, kann ich Sie beruhigen. Ich werde der Kommission selbstverständlich bestätigen, dass Sie Ihren Unterricht nicht vernachlässigen. Dennoch, man wird Ihre Kontakte wahrscheinlich missbilligen.«
    »Danke. Ich werde einfach abwarten.«
    An diesem Vormittag war Irmgard für die ersten beiden Stunden vom Unterricht befreit worden. Sie
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