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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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sollte ihre Schwester durch das Haus führen. Irmgard tat das nur widerwillig. Das fehlt mir gerade noch, dass ich die Kleine bemuttern soll, dachte sie. Sie fragte Ruth, ob es von zu Hause Neuigkeiten gäbe. Vor wenigen Tagen war ein langer Brief angekommen, in dem die Mutter geschildert hatte, wie es nach dem letzten schweren Bombenangriff in der Stadt aussah. Mehr wusste Ruth auch nicht. Beim Rundgang durch den Quellenhof staunte Ruth über die langen Flure und die vielen hohen Räume.
    »Bevor wir hier eingewiesen worden sind, war der Quellenhof ein Hotel«, sagte Irmgard.
    »Wer hat denn hier gewohnt?«
    »Leute aus Wien und aus der ganzen Gegend. Viele Kranke auch. Die wollten hier etwas für ihre Gesundheit tun.«
    »Ein Krankenhaus?«
    »Nein. Ein Kurhaus. Im Tiefgeschoss sind Baderäume und sogar ein Schwimmbecken. Das Wasser hier soll sehr gesund sein.« Sie stiegen über eine breite, schön geschwungene Treppe ins zweite Obergeschoss.
    »Hier sind unsere Stuben«, sagte Irmgard. Sie öffnete eine Doppeltür. Helles Licht flutete durch zwei große Fenster.
    »Das ist mein Bett.« Irmgard zeigte auf eins der zwei Doppelstockbetten. »Das untere Bett ist frei.«
    »Da könnte ich ja schlafen«, sagte Ruth.
    »Das fehlte gerade noch. Du bei uns Großen. Wahrscheinlich wohnst du bei den Mädchen aus der fünften Klasse im Tannenhaus.« Irmgard sah, dass Ruth ängstlich dreinschaute. Trotzdem, es war ihr recht, dass die Schwester in dem anderen Haus untergebracht werden sollte. Die Kleine, wie sie in der Familie hieß, war von der Mutter stets gehätschelt worden. Ruth hatte dicke dunkelblonde Haare, die sich über der Stirn kräuselten. Jeder, der zu Besuch kam, bestaunte ihre langen Zöpfe. Irmgard stand oft am Rande. Manchmal hatte sie die Aufmerksamkeit der Mutter erzwingen wollen und sich auffällig benommen, hatte in der Küche ein Rad geschlagen oder war auf den Händen gelaufen. »Irmgard«, hatte die Mutter dann vorwurfsvoll gesagt, »Irmgard, benimm dich.« Einmal hatte sie sich beim Äpfelschälen absichtlich in den Finger geschnitten. Die Mutter hatte ein Pflaster auf die Wunde geklebt und gesagt: »Ungeschicktes Fleisch muss weg.« Da erst hatte Irmgard zu weinen angefangen. Und jetzt sollte sich in Maria Quell wieder alles um die Kleine drehen? Nein, danke, dachte Irmgard. Gut, dass sie im Tannenhaus untergebracht wird. »Das Tannenhaus ist nicht weit von hier. Es liegt am Ende der Straße, gleich am Wald. In der Freizeit am Nachmittag können wir uns sehen. Wenn wir nicht …«
    »Wenn wir nicht?«, wiederholte Ruth.
    »Na, oft machen wir mit der LMF Spiele und mit Dr. Scholten auch manchmal lange Wanderungen. Bald wird Schnee liegen und die LMF hat uns versprochen, dass sie uns dann das Skilaufen beibringt.«
    »LMF?«
    »Lagermädelführerin. Sie heißt Käthe Malik.«
    Die Doppelstockbetten erinnerten Ruth an die Schlafstätten in dem Luftschutzkeller in Oberhausen. In diesem schönen Hotelzimmer standen sie wie Fremdkörper und passten nicht zu den übrigen Möbeln.
    Zur Einrichtung gehörten zwei breite Einzelbetten, ein großer Kleiderschrank und zwei schmale Spinde, dazu einige Hocker und ein Tisch vor dem Fenster. Das Waschbecken an der Wand neben der Tür machte Ruth neugierig. Sie öffnete die beiden Wasserhähne. »Wasser im Schlafzimmer«, rief sie überrascht.
    »Ja.« Irmgard fiel ein, wie sehr auch sie darüber gestaunt hatte, als sie im Sommer nach Maria Quell gekommen war. Zu Hause gab es nur einen Spülstein in der Küche und Oma Zarski, die am Rand von Oberhausen wohnte, musste das Wasser sogar aus dem einzigen Kran der Etage im Flur holen.
    Als Irmgard sagte, dass einige Räume sogar ein eigenes Badezimmer hätten, rief Ruth: »Das glaube ich erst, wenn du es mir zeigst.«
    »Das geht nicht. In den Zimmern mit Bad wohnen nämlich die Lehrerinnen und Lehrer.«
    Im Erdgeschoss läutete eine Glocke.
    »Pause«, sagte Irmgard. »Ich muss gleich zum Unterricht.« Blöd, dass mir jetzt die Kleine wie ein Hündchen folgt, dachte sie.
    Sie gingen hinunter. Für die Mädchen wurde an einem langen Tisch Tee ausgeschenkt und jede Schülerin konnte sich einen Apfel nehmen.
    Frau Brüggen ging auf ihre Nichten zu und zog sie beiseite. Sie sagte zu Ruth: »Irmgard weiß es schon, aber du, Ruth, musst dich auch daran halten; wenn du mich ansprichst, sag bitte nicht Tante Lene zu mir. Wie alle Schülerinnen nennst du mich Frau Brüggen. Es gibt sonst nur dummes Gerede und es wird behauptet,
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