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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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noch sitzen.
    »Wie lange warst du unterwegs, Lene?«, fragte Frau Krase.
    »Zwei volle Tage hat die Fahrt mit dem Zug gedauert. In Wien hatten wir fast vier Stunden Aufenthalt.«
    »Wir müssen jetzt wohl«, sagte Frau Lötsche.
    Dr. Scholten und Frau Brüggen folgten ihr durch den langen dunklen Flur. Ganz am Ende, hinter einer schweren Doppeltür, befand sich das Büro des Schulleiters. Dr. Scholten klopfte an und sie traten ein. Direktor Aumann saß an seinem Schreibtisch. Hinter ihm an der Wand hing ein großes Hitlerfoto.
    »Sie hatten uns gebeten …«, erinnerte Frau Lötsche ihn.
    Mit einer Handbewegung forderte der Direktor sie auf, an dem runden Tisch vor dem Fenster Platz zu nehmen. Er räusperte sich und sagte: »Sie wissen selbst, Kollegin Brüggen, dass wir Ihre Nichte nicht hierbehalten können. Die Vorschriften sind eindeutig. Die Kleine ist zu jung für unsere Oberschule.«
    Dr. Scholten meldete sich zu Wort: »Nun lassen Sie Frau Brüggen doch erst einmal berichten, wie sie dazu gekommen ist, Ruth Zarski mitzubringen.«
    »Das ist schnell erzählt.« Frau Brüggen sprach leise. »Wir haben es doch letztes Jahr im Mai alle gehört. Die Möhnetalsperre ist von britischen Bombern zerstört worden. Meine Schwester, Cilli Zarski, hatte Ruth bei unserer Cousine Ursula in einem Dorf hinter Schwerte untergebracht. In Oberhausen und den Ruhrgebietsstädten waren ja längst alle Schulen geschlossen. Das Haus meiner Cousine liegt nicht weit von der Ruhr entfernt. Die riesige Flutwelle, die sich aus der Talsperre ruhrabwärts wälzte, hat das ganze Flusstal verwüstet. Es soll an die tausend Tote gegeben haben.«
    »Das ist alles hinlänglich bekannt«, unterbrach der Direktor sie. »Kommen Sie bitte zur Sache.«
    »Meine Cousine Ursula war zum Glück rechtzeitig gewarnt worden. Sie konnte ihre beiden eigenen Kinder und auch die kleine Ruth in Sicherheit bringen. Aber das Vieh ist ertrunken und das Haus nicht mehr bewohnbar.«
    »Und Ruth?«, drängte der Direktor.
    »Meine Cousine hat dem Kind eine Karte um den Hals gehängt und seinen Namen und die Adresse in Oberhausen daraufgeschrieben. Ihre eigenen Kinder konnte sie für einen Tag bei Bekannten unterbringen. Ein Bauer nahm meine Cousine und Ruth auf seinem Pferdewagen mit zum Bahnhof nach Schwerte. Dort hat sie eine Fahrkarte für Ruth gelöst und ihr eingeschärft, dass sie in Dortmund eine Schaffnerin bitten sollte, ihr zu zeigen, von welchem Bahnsteig der Zug nach Oberhausen abfährt.«
    »Aber sie ist doch noch ein Kind! Allein auf eine solche Reise!«, rief Frau Lötsche aus.
    »Wäre Ihnen eine bessere Lösung eingefallen?«, erwiderte Frau Brüggen bitter. »Jedenfalls ist Ruth heil angekommen. Meine Schwester Cilli hat sich ausgemalt, was ihrer Tochter auf der Fahrt alles hätte passieren können, und hat sich geweigert, Ruth noch einmal wegzulassen. Sie wollte sie bei sich in Oberhausen behalten.«
    »Aber die Schule«, sagte Frau Lötsche. »Sollte das Kind denn überhaupt keine Schule mehr von innen sehen?«
    »Meine Schwester war fest entschlossen, Ruth nicht mehr wegzuschicken. Lieber hier ohne Schule mit mir umkommen, als irgendwo in der Fremde allein sterben, hat sie gesagt.«
    »Ganz ohne Unterricht?«, fragte der Direktor unwirsch. »Immerhin haben wir seit hundert Jahren die allgemeine Schulpflicht. Das ist ein Gesetz. Da kann nicht jeder nach Lust und Laune …«
    »Lust und Laune, Herr Direktor?«, unterbrach Frau Brüggen ihn. »Not und Verzweiflung wäre wohl treffender. Außerdem war da ja noch der alte Lehrer Mausberg. Der hat in der Wohnung neben meiner Schwester ein Zimmer zugewiesen bekommen, nachdem sein Haus zerbombt worden war. Herr Mausberg ist schon vor Jahren pensioniert worden. Der hat unsere Ruth jeden Morgen unterrichtet. Vorige Woche haben sie dann den Angriff auf unsere Stadt geflogen. Zuerst regnete es Brandbomben. Dann wurden von einer zweiten Bomberwelle Sprengbomben geworfen. Meine Schwester war mit Ruth rechtzeitig zum großen Bunker gerannt. Als sie nach Stunden zurückkonnte, war das Haus nur noch ein schwelender Trümmerberg. Herr Mausberg und alle Bewohner des Hauses, die im Luftschutzkeller geblieben waren, sind umgekommen. Meine Schwester hat sich in dem kleinen Stall hinter dem Haus mehr schlecht als recht eingerichtet.«
    »Und das Kind?«, fragte Dr. Scholten.
    »Mein Schwager Heinz hat vor dem Krieg zwei Ziegen in dem Stall gehalten. Der Futtertrog war noch da. Den hat meine Schwester mit Heu gefüllt.
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