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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes
Autoren: Erwin Koch
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1 Manarola
    Es müsste einem, bald zweiundsechzig, egal sein, dass es Winter ist -

    Dagmar sah hinab auf die Straße, die noch beleuchtet war, halb acht Uhr im Dezember, die Straße war nass und glänzte. Ein Schatten huschte von Haus zu Haus, Dampf vor dem Gesicht, und legte Zeitungen in Kästen. Dagmar schien, als blicke er plötzlich zu ihr, zwei Sekunden lang, drei. Sie überlegte, dem Schatten zu winken. Plötzlich lief er zu seinem Auto und fuhr davon, Richtung Friedhof.
    Nach zweiundzwanzig Jahren sollte es einem egal sein, wo man wohnt -

    Dagmar, seit sie hier wohnte, an der Grundstraße neun in Aberwald, Kreis Geerschach, bedrückte die Nähe des Friedhofs.
    An den Friedhof, sagte sie bei Gelegenheit, gewöhne man sich nie.
    Immerhin macht der keinen Lärm, sagte Albert. Aber Bewusstsein, sagte Dagmar.
    Wofür?
    Dass man bald selbst dort liegt.

    Schlimm?, fragte Albert.
    Meine Mutter Dagmar, eine geborene Schorff, war einundsechzig, mein Vater Albert, Pastor der evangelisch-protestantischen Kirchgemeinde Aberwald-Lukas, drei Jahre älter, ein Jahr vor der Rente. Ich war ihr einziges Kind, Glück und Elend: Simon Mangold, Redaktor für Nachrufe beim Holdener Tagblatt, im sechsunddreißigsten Jahr seines Lebens.

    Dagmar hatte geträumt. Sie stand am Fenster ihrer Küche, das Haar bauschig und fahl, sie fror, wie sie oft fror am Fenster zur Straße. Mein Vater, Albert, nannte Dagmar, wenn er sie fröstelnd in der Küche fand, Frörchen, manchmal Eiszäpfchen oder Kristall. Dann hielt er ihr die Wange hin, immer die linke, Küsse am Morgen mochte er nicht. Auch sonst war Albert kein Küsser. Dagmar schob den Kragen des Morgenrocks unter das Kinn, hielt ihn fest mit der Hand und dachte an nichts. Es war Sonntag, der elfte Zwölfte.

    Sie drehte sich zum Tisch, überlegte, ein Tuch darüberzubreiten, wie sie es früher oft getan hatte. Dagmar füllte einen Topf mit Wasser, setzte ihn auf den Herd und drehte den Knopf, sie öffnete den Kühlschrank, nahm daraus eine Flasche Milch, Butter, Marmeladen, Kirsche für ihn, Feige für sie. Sie stellte einen kleinen gelben Teller an Alberts Platz, Alberts kleinen gelben Teller, und den roten an ihren. Sie holte Messer und Löffel aus einer Schublade, legte sie neben die Teller, das Messer rechts,die Klinge zum Teller gedreht, den Löffel links. Dagmar setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie immer saß, die Hände im Schoß, noch benommen, und dachte an nichts. Weit weg lärmte die Polizei, vielleicht die Feuerwehr.

    Heute kommt Simon -

    Wenn Albert nun sagen wird, dass er, nach all den Jahren, Sonntage nicht mag, wird sie antworten wie immer: Du hast den falschen Beruf gewählt. Zu spät.
    Sie wartete, sah zur Uhr, die neben dem hohen blauen Kühlschrank hing, sah zum Tisch, schraubte die Deckel von den Marmeladen, legte die Deckel aufeinander.
    Kirsche für ihn, Feige für mich -
    Dagmar stieß den Löffel in ihre Marmelade, sie leckte den Löffel ab, leckte ihn sauber, damit Albert, wenn er nun in die Küche käme, nicht sah, dass sie genascht hatte.

    Feigen, als Marmelade, aß man zum ersten Mal am Meer vor sechsunddreißig Jahren.
    Verliebt und schwerelos waren sie ans Meer gefahren, nach Manarola in Ligurien, Dagmar war zum ersten Mal am Meer, das kleine Hotel, in dem sie wohnten, hieß Flora, vielleicht Florida. Das Brot zum Frühstück war hart wie Zwieback, die Marmelade, aus frischen Feigen, ein Glück.

    Sie badeten im Meer, er Student der Theologie, sie Lehrerin, Grundstufe eins.
    Dagmar konnte nicht schwimmen.
    War sie mit Albert im Meer, um zu schwimmen, streckte Dagmar ihr rechtes Bein, ihren rechten Fuß, stützte sich auf den rauhen felsigen Grund und ruderte mit den Armen und dem freien linken Bein, als könne sie schwimmen. Sie hüpfte und schrie und lachte und tat vieles, um Albert zu blenden. Als der große Zeh des rechten Fußes blau war und schmerzte, wechselte sie zum linken. Dagmar lachte laut und spritzte Wasser in Alberts Augen.
    Als Knabe, erzählte Albert, als man am Strand saß, habe er seiner Schwester einmal fünfzig Rappen geboten für einen gewissen Handel.
    Er schwieg, bis Dagmar fragte: Was für einen Handel? Der war bestimmt von Angebot und Nachfrage, wie alles auf der Welt, selbst Gott und die Frauen unterliegen diesem Gesetz.
    Sie saßen im Sand, es war früher Herbst, noch warm in Ligurien, Albert nahm Dagmars Hand und zog sie auf seinen haarigen Schenkel.
    Mein Angebot, sagte Albert, war unmoralisch, aber
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