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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes
Autoren: Erwin Koch
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tat weh, mein Hals. Ich stand auf und ging zum Tisch, blies die Kerze aus, setzte mich auf den Stuhl und fühlte die Hitze meiner Stirn. Ich wollte weinen. Schließlich ging ich ins Badezimmer und zog mich aus, ich putzte die Zähne und dachte an Charlotte und Tim, die lieber einen Schneemann bauten, als mit mir zu sein. Ich ging ins Bett.

    Anna, die Knie angewinkelt, ihren Rucksack auf dem Bauch, lag hinten.
    ‹In Ordnung?›, fragte Albert.
    ‹Danke›, sagte Anna.
    ‹In einer halben Stunde sind wir dort. Sie bewegen sich nicht, bis ich es erlaube.›
    ‹Ja.›
    Dagmar öffnete das Garagentor und schloss es wieder, als der Opel im Freien stand, sie klopfte den Schnee von den Schuhen und setzte sich neben Albert, schloss den Gurt.
    ‹Zum Glück hat es aufgehört zu schneien›, sagte sie.
    Albert fuhr los, sehr langsam, die Grundstraße hinauf, die Merkurstraße.
    ‹Geht es?›, fragte Dagmar.
    ‹Es geht gut›, sagte Anna.
    Am Lukasplatz, links und rechts Mauern aus Schnee, war kaum Verkehr.
    Ein Polizist in roter Weste stand am Rand der Straße und begann, als er den Opel sah, mit einer Lampe zu winken, Albert bremste ab, das Auto blieb stehen, Albert öffnete das Fenster.
    ‹Guten Abend›, sagte der Polizist, ‹von wo kommen Sie?›
    ‹Guten Abend, von zu Hause, Grundstraße neun. Ich bin Albert Mangold, Pastor von Aberwald-Lukas, und das ist meine Frau. Ihr Inspektor, Herr Gassmann, hat uns erlaubt, das Haus zu verlassen. Bitte rufen Sie ihn an, er sollte in seinem Büro sein. Mangold ist mein Name, Pastor von Aberwald-Lukas.›
    ‹Und Sie fahren wohin?›
    ‹An die Haferhainstraße, zur Witwe von Edgar Sommerhalt.›
    ‹Alles klar›, sagte der Polizist, ‹passen Sie auf, die Welt ist rutschig heute Nacht.›
    Langsam fuhr Albert weiter, Mandentalstraße, Breite Allee, Dagmar legte ihre Hand auf Alberts Schenkel.
    Man schwieg.
    Nur wenige Autos kamen entgegen, Albert fuhr sehr langsam, fast kroch er, Autos überholten, Weinbergplatz, Kurweg.
    ‹Als ich Paul zum letzten Mal besuchte, als ich ihn zum letzten Mal bei Bewusstsein sah, saß er im Bett, das Telefon neben sich und ein Chemielexikon. Das Buch waraufgeschlagen. Wie es ihm gehe, fragte ich. Er hauchte, es gehe ständig besser. Ich fragte, was er da mache, wen er anrufe. Er sei daran, eine letzte Klärung zu treffen, sagte Paul. Er möchte, bevor er sterbe, wissen, welchen Wert er habe, wie viel er wert sei, seinen Materialwert möchte er erfahren. Wozu?, fragte ich. Da, sagte Paul und zeigte auf das offene Buch, lies diese Liste. Ich nahm das Buch und las: Ein Mensch, fünfundsiebzig Kilogramm schwer, besteht aus vierundfünfzig Kilogramm Sauerstoff, aus dreizehn Kilo Kohlenstoff, aus sieben Kilo Wasserstoff, aus zwei Kilo Stickstoff, aus einem Kilo Kalzium, aus siebenhundert Gramm Phosphor, aus Schwefel, Kalium, Natrium, Chlor, Magnesium, Eisen, Zink, Silizium, Rubidium, aus einem Gramm Fluor und so fort. Paul, mit seiner letzten Kraft, rief Apotheken an, eine nach der andern, er rief Labors an, um zu erfahren, zu welchem Preis die Elemente, die ihn ausmachten, aktuell gehandelt wurden. Nun sei er bereits beim Natrium, sagte Paul, alles in allem, denke er, sei man höchstens sechzehn Franken wert.›
    ‹Ja›, sagte Anna leise.
    ‹Ja.›

    Sie erreichten den Hauptbahnhof. Albert hielt am Westeingang, den Motor stellte er nicht ab.
    ‹Wir verabschieden uns nicht›, sagte Albert, ‹Dagmar und ich steigen nicht aus, wir reichen uns nicht die Hand.›
    ‹Kann ich hochkommen?›, fragte Anna.
    ‹Sie kommen jetzt hoch, verlassen den Wagen und verschwinden›, sagte Albert.
    ‹Danke›, sagte Anna.
    Anna, den Rucksack in der Linken, öffnete die Tür und verschwand in der Menge am Hauptbahnhof von Aberwald.

    Den Kilometerzähler hat Albert nicht auf null gestellt -

    Mein Telefon schellte um zwanzig nach elf.
    Ich wusste sofort Bescheid.

    Als Kind, nachts im Bett, erfand ich mir eine Grausamkeit. Ich lag im Bett und fragte mich, wen ich heftiger liebe, Vater oder Mutter. Ich lag im Bett, flüsterte die Worte Vater Mutter Vater Mutter Vater Mutter, ständig schneller, Mutter Vater Mutter Vater, schnell und schneller, und wusste endlich nicht, welches Wort ich häufiger geflüstert hatte, Mutter Vater, wo ich, der doch beide gleich heftig zu lieben vorhatte, keinen bevorzugen wollte, Mama nicht, Papa nicht. Bis ich in meiner Verzweiflung zu weinen begann und die Tränen in meine Ohren flossen, in die Hörgeräte, die zu summen
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