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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes
Autoren: Erwin Koch
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verständlich.
    Erzähl, bat Dagmar.
    Wir hatten zu Hause fünf Zimmer, ein Wohnzimmer, das Schlafzimmer meines Vaters, das verlassene Zimmer meiner Mutter, das meiner Schwester und meins. Zwischen ihrem und meinem war eine Tür, die ständig geschlossenwar, ich glaube, es gab keinen Schlüssel dazu, diese Tür, solange ich dort lebte, stand nie offen.
    Und?
    Ich war sechzehn, vielleicht etwas jünger, meine Lenden, auf jeden Fall, hellwach.
    Deine was?, fragte Dagmar.
    Meine Lenden. Hellwach.
    Dagmar musste lachen.
    Und dann?, fragte sie.
    Noch nie hatte ich eine Frau nackt gesehen. Und deshalb, eines Tages, als Vater nicht zu Hause war, versprach ich meiner Schwester fünfzig Rappen, wenn ich zuschauen dürfe, wie sie sich wäscht. Wir hatten kein Badezimmer, man wusch sich in der Küche. Sie sagte, ich sei ein Schwein.
    Was nicht stimmt, flüsterte Dagmar und rieb ihre Stirn an Alberts Schulter.
    Sie sagte: Ich erzähle es Vater.
    Ich bot sechzig.
    Jetzt erzähle ich es ihm erst recht, sagte meine Schwester.
    Siebzig, sagte ich.
    Achtzig, sagte sie, dann denke ich darüber nach.
    Tage später gab sie mir Bescheid. Sie sei einverstanden, sagte sie. Aber sie zeige sich mir nicht in der Küche und nicht ganz, sondern durchs Schlüsselloch zwischen ihrem Zimmer und meinem und beschränkt auf die Krausen am Bauch, nicht länger als zwei Minuten.
    Achtzig Rappen, die Hälfte als Vorschuss, sagte sie.
    Ich bezahlte, sie ging in ihr Zimmer, ich in meins, Cecile klopfte, als sie so weit war, an die Tür, ich bückte mich zum Schlüsselloch und sah. Mir gefiel, was ich sah, ich sparte mein Taschengeld, um es zu sehen, bald dreimal in der Woche.
    Du bist doch ein Schwein, flüsterte Dagmar und küsste Albert auf den Hals.
    Nur einmal in meinem Leben, sagte Albert, habe er seine Schwester geschlagen, als er entdeckte, dass, was Cecile ihm offenbarte, Teil einer Näharbeit war, billiges schwarzes Katzenfell.
    Dagmar musste sehr lachen, sie hauchte: Mein Theologiestudent, seine Lenden hellwach.
    In Ligurien am Meer, entzündet von Marmelade aus Feigen, wurde Dagmar Schorff schwanger mit mir, Simon Mangold, Nachrufer von Beruf.
    Meine Eltern heirateten heimlich und schnell.

    Sie hörte eine Tür gehen, ahnte Alberts Schritte.
    ‹Du hättest nicht zu warten brauchen›, sagte er.
    Dagmar hob die Hände aus dem Schoß, stand auf, Albert hielt die linke Wange hin, sie küsste und trat zur Kaffeemaschine.
    ‹Es ist dunkel heute›, sagte er.
    ‹Es wird schneien›, sagte sie.
    Sie stellte eine Tasse unter die Düse der Maschine, drückte einen Knopf, sie wartete, bis die Tasse voll war, trug die Tasse zum Tisch.
    ‹Danke›, sagte er.
    Sie zog den Topf vom Herd und rührte Kräuter ins kochende Wasser, getrocknete Pfefferminze.
    ‹Fang ruhig an›, sagte sie.
    ‹Heute kommt Simon›, sagte er.
    ‹Mit Tim und Charlotte›, sagte sie.
    Eine Tasse Tee in der Hand, trat sie an den Tisch und setzte sich Albert gegenüber. Dagmar sah zum Fenster, dann zu Albert, der eine schwarze Hose trug, ein weißes Hemd mit blauen Streifen, die graue Strickjacke, die sie ihm gekauft hatte, um ihn zu trennen vom Pullover, den er seit Jahren trug.

    Pastor Mangold, mein Vater, ein treuer Mensch, trennte sich schwer von den Dingen seines Lebens, les choses de la vie, aus Achtung dafür, dass sie so lange in seiner Nähe blieben, als Füllfederhalter, als Stimmgabel, Pullover, als Brille, Hundeleine oder Schreibmaschine oder Notenständer. Ich fand, in Alberts vielen Kisten wühlend, um Stoff für diesen Abschied zu sammeln, die Zeichnungen, die ich ihm gezeichnet hatte, die Briefe, die ich ihm geschrieben hatte, als ich ihm noch Briefe schrieb. Jede Zeichnung, jeden Brief hatte er mit meinem Namen versehen, Simi oder Simon, und mit dem Tag, da er sie in seine Kisten legte. Hunderte von Visitenkarten fand ich in einer kleinen hölzernen Kiste unter Vaters Pult, und einen Zettel darin, nicht größer als eine Hand. Drei Herzen hatte ich darauf gezeichnet, jedes mit Augen und einem lachenden Mund, die Herzen hatten lange dünne Arme, sie reichten sich die Hand, eins war überschriebenmit Papa, eins mit Mama, das mittlere mit Simon: Lieber Papa, Ich wünsche Dir ein langes Leben, Simon.
    Ich wunderte mich, wie viele Briefe ich ihm geschrieben hatte, wie viele Zeichnungen zugedacht.

    Dagmar nahm das Messer und zog es über die Butter, strich die Butter auf ein schmales Stück Brot, legte das Brot in seinen gelben Teller und schob ihn zu Albert, der
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