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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes
Autoren: Erwin Koch
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auf.
    Ich saß an meinem Tisch, einen Stapel Nachrufe neben mir, jeder in einer Sichthülle aus Plastik, die Männer in blauen, die Frauen in roten.
    Manchmal, wenn die Zeitungsseite nicht voll ist, setze ich Poesie zwischen die Nachrufe, Denk es, o Seele! von Mörike, ein paar Zeilen von Hölderlin, Hesse, Fontane, Keller oder Shakespeare, einen netten Psalm, eine billige Dreingabe, Gefälliges, wofür der Chef mich lobt.
    Ernst nehme ich nur die Nachrufe.
    Der Nachruf ist die letzte Wahrheit. Alle früheren Wahrheiten hebt er auf.
    Denn die Wahrheit, so lange man lebt, ist ein Gedicht, ein Gespenst, ein flüchtiger Stoff, haltbar und dingfest erst im Nachruf. Was der Mensch wahrnimmt, ist nicht die Welt an sich, sondern ihre Spiegelung. Die Welt erscheint ihm nur.
    Und also ist der Nachruf die Feile des Nachrufers, um der Wahrheit unendliche Kontur zu geben, das letzte Gesicht, die Totenmaske, nicht mehr zu ändern.
    Deshalb brüte ich mich hinein in die Intention des Schreibers. Was ist, in seiner Darstellung oft kaum zu durchschauen, was ist ihm unverzichtbar? Was verschweigt oder beleuchtet er aus welchem Grund?
    Neulich, nachdem sich die Schreiberin eines Nachrufs beim Chefredaktor beklagt hatte, ich hätte das Bild ihrer Mutter verfälscht, ich hätte aus ihrer aufmerksamen Mutter eine sensible gemacht, ich hätte also die Wahrheit verdünnt, neulich, als der Chef kam, stand ich auf und maulte: Was ist Wahrheit in einer Zeit, in der jeder selbst bestimmt, was über ihn im Lexikon steht, world wide?
    Langsam, langsam, sagte der Chef und legte seine Hand auf meinen Arm, Simon, das war kein Vorwurf, nur ein Hinweis darauf, wie empfindlich jemand ist, der sich eine einzige Wahrheit leistet.
    Es war längst dunkel, zu früh zum Schlafen. Ich packte die Nachrufe in meine Arbeitsmappe, stellte die Mappeneben den Tisch. Ich überlegte, was ich tun könnte, ich ging ins Badezimmer, rasierte mich, wusch mir mein Gesicht. Dann stellte ich den Fernseher an. Sie zeigten Schneeschleudern und Tennis. Ich legte mich aufs Bett, zog die Decke über die kalten Füße.

    ‹Sie haben nicht zufällig ein Foto von ihm?›, fragte Anna.
    Dagmar stand auf und ging ins Wohnzimmer, sie kam wieder, ein Bild in der Hand, unter Glas und gerahmt, Anna und Simon Mangold mit ihren Kindern, Charlotte und Tim.
    Anna stellte die Tasse auf den Tisch, nahm das Bild in ihre Hände, besah sich das Bild und schwieg.
    ‹Da waren sie am Bodensee. Zwei Jahre her.›
    Man schwieg.

    ‹Das sind nicht Lachfalten›, sagte Dagmar. ‹Simon ist gealtert, vor allem unter den Augen.›
    Albert sagte: ‹Wir haben einen Opel, diesen Kombi, halb Lieferwagen, halb Personenwagen. Den haben wir seit sieben oder acht Jahren. Weil ich damals noch Kontrabass spielte und der Bass so gut in dieses Auto passte.›
    Das habe sie vergessen, sagte Anna.
    Was?
    Dass er früher Kontrabass gespielt habe.

    Bevor sie verschwindet, sollte sie ihre Nägel putzen -

    Anna wischte ihr langes welliges Haar aus dem Gesicht.
    ‹Ich war ihm nie böse, dass er nur zwei Jahre bekam, im Gegenteil, ich freute mich für ihn. Simon schrieb Briefe, dauernd schrieb er mir Briefe, drei, vier Briefe in der Woche, von Knast zu Knast, und ich schrieb nie zurück, nicht ein einziges Mal. Er schrieb, dass er mich liebe, dass er ohne mich nicht sein könne. Am Anfang, in seinen frühen Briefen, versprach er noch, Gerechtigkeit herzustellen, sobald er wieder frei sei, Gerechtigkeit, Freiheit, diese Dinge. Er wollte Eindruck machen, er kämpfte um mich. Und je klarer ihm wurde, dass wir uns verloren, desto ehrlicher waren seine Briefe. Er begann Dinge zu erzählen, die er mir, als wir noch zusammen waren, nicht erzählt hatte.›
    Anna, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, legte beide Hände flach ins Gesicht, führte die Finger über die Stirn, aufwärts, abwärts, führte sie über die Augen, über Nase, Mund, Kinn, begrub die Hände im Pullover.
    Sie lachte auf.
    ‹Am Anfang unterschrieb er noch mit Carlo, nicht mit Simon. Er war Carlo, ich Rosa, wir Wahnsinnskinder. Dann unterschrieb er mit Simon. Er schrieb, und ich antwortete nie, ich wartete jeden Tag auf einen Brief, ich liebte seine Briefe, ich glaube, das erste Jahr im Gefängnis hätte ich nicht überlebt, hätte Simon mir nicht geschrieben. Einmal schrieb er, dass er oft onaniere und dabei an mich denke. Und dass seine Hände nach dem Onanieren wundersam riechen würden und ihn daran erinnerten, wie er als Zehnjähriger mit seiner
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