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Münsterland ist abgebrannt

Münsterland ist abgebrannt

Titel: Münsterland ist abgebrannt
Autoren: Jürgen Kehrer
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Südchina, 1990
    Vom Lugu-See aus fuhren sie noch eine Stunde, dann wurde der Weg so steil und schmal, dass die Jeeps nicht mehr weiterkamen. Den letzten Teil der Strecke legten sie mit ihren schweren Rucksäcken zu Fuß zurück. Als sie schließlich das Dorf erreichten, in dem sie die nächsten Wochen verbringen sollten, waren die drei Deutschen – zwei Männer und eine Frau – am Ende ihrer Kräfte. Aber auch ihre chinesischen Begleiter schnauften in der dünnen, gegen Abend empfindlich kühlen Höhenluft. Das Dorf, falls man es überhaupt so nennen wollte, bestand aus wenigen verstreut in einer Talmulde liegenden Höfen, die alle nach dem gleichen u-förmigen Schema errichtet waren. Bo, der Dolmetscher, hatte ihnen erklärt, dass die abgelegene Siedlung für ihre Zwecke geeigneter sei als die dichter bewohnten Ufer des Lugu-Sees.
    Bo, der ein paar Jahre in Deutschland verbracht hatte, führte sie zu einer kleinen Anhöhe am Rande der Siedlung, auf der das größte Holzhaus thronte. Schon auf dem Trampelpfad dorthin wurden sie von einer Horde kreischender Kinder empfangen. Das Geschrei der Kleinen lockte nun auch Erwachsene an, nach und nach kamen etwa zehn Männer und Frauen aus dem Gebäude. Die Älteren gaben sich Mühe, ihre Neugier nicht so offen zu zeigen wie die Kinder, doch auch sie staunten über die Kleidung und vor allem über die riesigen Rucksäcke der Fremden. Zuletzt trat eine ältere Frau aus dem Hauptgebäude. Während die Jüngeren meist Hosen und chinesische Jacken trugen, hatte sie einen weißen Wickelrock angelegt, darüber einen breiten roten Gürtel und ein blumengemustertes Oberteil. Das schwarze, von silbernen Fäden durchzogene Haar steckte zum größten Teil unter einem kunstvoll geschlungenen Turban. Für die Deutschen war es schwierig, dem dunkelbraunen, vom Leben in den Bergen gegerbten Gesicht ein Alter zuzuordnen, es mochte irgendwo zwischen vierzig und sechzig liegen. Der Blick, mit dem sie die Neuankömmlinge bedachte, und die Art, wie sie dabei ihre selbstgerollte Zigarette rauchte, machten allerdings unmissverständlich klar, dass sie hier das Sagen hatte.
    «Das die
Dabu
, die Hausherrin», kommentierte Bo.
    Der Dolmetscher begrüßte die Mosuo-Frau und übergab ihr einige Geschenke – Kleidung, Lebensmittel und Geld. Die Mitbringsel stießen auf Wohlwollen, auf dem zuvor skeptischen Gesicht der Dabu breitete sich ein Lächeln aus, das eine Reihe brauner Zähne enthüllte. Dann sprach sie ein paar Worte mit dem Dolmetscher.
    «Wir bekommen jetzt Zimmer gezeigt», wandte sich Bo wieder an die Deutschen. «Danach man erwartet uns zum Essen im Haupthaus.»
    Die Gästezimmer lagen über den Stallungen in einem Seitenflügel des Haupthauses. Die beiden deutschen Männer bekamen ein gemeinsames Zimmer zugeteilt, die Frau erhielt ein eigenes. Das, betonte Bo, entspräche den Sitten der Mosuo, es sei verpönt, Frauen zusammen mit Männern in einem abgeschlossenen Raum unterzubringen.
    «Und wie entstehen die kleinen Mosuo?», erkundigte sich der hagere Deutsche ein wenig spöttisch. Mit seinem fusseligen Vollbart und der ins Haar geschobenen Sonnenbrille sah er aus wie ein Bergsteiger auf dem Weg zum Himalaya-Gipfel. «Doch nicht etwa heimlich?»
    «In gewisser Weise», nickte Bo. «Sehen Sie Räume dort drüben?» Er deutete auf den gegenüberliegenden Seitenflügel. «Da sich befinden die Blumenzimmer. Sie vorbehalten Frauen in gebärfähigem Alter.»
    Der Dolmetscher und ein weiterer Chinese logierten im selben Gebäudetrakt wie die Deutschen, alle übrigen Wissenschaftler der Expedition sowie die Fahrer und Soldaten bezogen ihr Quartier in anderen Höfen des Dorfes.
    Nachdem sie ihr Reisegepäck und ihre Ausrüstung provisorisch gelagert hatten, schlossen sich die drei Deutschen Bo an, der sie schon vor dem Eingang zum Hauptgebäude erwartete.
    Als sie den großen Raum im Haupthaus betraten, brauchten sie ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es gab keine Fenster, und die einzige Lichtquelle war eine Feuerstelle in der Mitte, in der Holzscheite loderten. Der Rauch, soweit er sich nicht im Raum verteilte und als Ruß an den geschwärzten Wänden ablagerte, zog durch winzige Ritzen im Dach ab. Mit Fellen behangene Bänke an den Seiten dienten als Schlafstätten, weiche Matten auf einem Holzpodest oberhalb der Feuerstelle luden zum Sitzen ein. Unter einer goldglänzenden Buddha-Statue standen Schalen mit
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