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Nur Gutes

Titel: Nur Gutes
Autoren: Erwin Koch
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seltsam. Ich muss von vorn beginnen. Mein Vater hatte ein Pferd, den Braunen Florian, den er sonntags über die Wiesen trieb, in die Wälder der Gegend. Manchmal durfte ich mit in den Stall, damit ich Papa half, den Zaum zu fetten. Einmal, beim Putzen des Zaumzeugs, war ich so glücklich, dass ich zu singen begann, ich sang alle Lieder, die ich kannte, ich war elf Jahre alt. Der Kuckuck und der Esel, Stille Nacht, Ein Jäger aus Kurpfalz, Zehntausend Mann. Zehntausend Mann, die zogen ins Manöver, zehntausend Mann, die zogen ins Manöver, rumpedibum, der Stiel ist krumm, die die zogen ins Manöver, rumpedibum. Nie zuvor hatte mir jemand so lange zugehört. Ich kann es nicht erklären, es ist nicht zu erklären. Da kamen sie zu einem reichen Bauern, da kamen sie zu einem reichen Bauern, rumpedibum, der Stiel ist krumm, zu einem reichen Bauern, rumpedibum. Der Bauer hatte eine wunderschöne Tochter, derBauer hatte eine wunderschöne Tochter, rumpedibum. Wochen später fand ich in der Satteltasche ein Stück Papier: Heute Abend bis zehn bin ich allein, R. hat Sitzung, Barbara Ballett, kommst du hoch? Deine Brigitte. Brigitte Schöffling aus dem dritten Stock, die Mutter von Barbara Schöffling, die mit mir in derselben Klasse saß. Ich glaube, meine Mutter wusste es längst, sie wusste alles.›
    Albert goss Wein in sein Glas.
    ‹Mein Vater liebte die Frauen, nicht nur seine, er liebte alle Frauen, er liebte jede, er konnte nicht anders. Das gibt es. Nachts blieb er oft weg. Und Mama litt. Das gibt es.›
    Er trank einen Schluck, stellte das Glas lautlos aufs helle Holz.
    ‹Sie fragte: Kleiner, wie sah der Kaiser denn aus? Erzähl. Der Kaiser habe einen langen braunen Mantel getragen, der den Boden berührte, eine Art Schleier oder Überwurf, sagte ich, der Kaiser von Äthiopien habe einen kurzen Bart und leuchtende Augen und eine ganz leise Stimme, kleine weiße Zähne. Ich habe noch nie einen Kaiser gesehen, sagte Mama und kicherte. Und so, wie es aussieht, werde ich auch nie einen sehen. Sie war gut gelaunt an jenem Abend. Dann fragte sie: Kinder, was ist euer größter Traum? Ich dachte: Jetzt oder nie. Cecile, anderthalb Jahre jünger als ich, sagte: Skilehrerin werden. Und du?, fragte Mama.›
    Albert brach ab.
    ‹Ich muss von vorn beginnen. Damals war in der Kepplergasse die Tierhandlung Visconti. Wenn ich von der Schule kam, blieb ich davor stehen und sah ins Schaufenster, Hamster, Springmäuse, Kaninchen, Fische in Aquarien, Meerschweinchen, strubbelig oder glatt. Ich stand vor Visconti, sah durchs Glas und dachte mir Namen aus für die Tiere, die mir nicht gehörten, Rotchen für das rote, Braunchen für das braune, Weißchen. Tiere kommen mir nicht ins Haus, sagte Papa. Was ist los mit dir?, fragte Mama, wenn ich von der Schule kam und nichts aß und nichts redete. Weißchen war fort, verkauft. Dann Braunchen, und so fort. Aber ich wollte ein Tier, etwas Warmes, etwas, das mir gehörte, ein Wesen, das zuhörte. Die Mutter fragte: Albert, was ist dein größter Traum? Ein Tier!, schrie ich. Ein Tier! Aber du weißt doch, dass Papa. Ein Tier will ich! Albert, ich verspreche dir, irgendwann bekommst du dein Tier, sagte Mama. Ich rannte in mein Zimmer und schrieb auf einen Zettel: Heute hat mir meine Mutter ein Tier versprochen. Ich setzte das Datum hinzu, ging zu meiner Mutter, die in der Küche saß, Wein auf dem Tisch, und reichte ihr den Stift: Wenn du nicht lügst, dann unterschreib. Sie unterschrieb: Elisabeth Mangold, aus Liebe zu ihrem Sohn, der heute den Kaiser von Äthiopien sah.›

    Jetzt ist es Nacht -

    ‹Das war›, sagte Albert, ‹zwei Tage vor ihrem Tod. Ich bin der Ältere, meine Schwester Cecile ist anderthalb Jahre jünger als ich. Ich war dreizehn, bereits am Gymnasium. Ich stand in der Küche, ich brauchte keinen Wecker, ich erwachte von selbst, damals. Heute brauche ich einen Wecker, heute kann ich nicht einschlafen, ohne den Wecker gestellt zu haben. Als Mama nicht in die Küche kam wie jeden Morgen. Ich spürte es, dieser Morgen war anders als alle Morgen zuvor. Ich dachte. Ich wartete und öffnete schließlich die Tür ihres Zimmers, ganz leise. Mama lag im Bett, den Rücken zur Tür gewandt, also zu mir. Ich sagte: Mama, es ist Morgen, ich muss zur Schule. Mama! Normalerweise hätte sie sich nun gedreht, sich zu mir gedreht. Aber sie drehte sich nicht. Ich trat an ihr Bett. Mamas Haar lag auf Mamas Gesicht, ganz wild und klebrig. Und neben dem Gesicht lagen Tabletten. Ich berührte
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