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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators
Autoren: Lisa Moore
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Augen.
    Sieh mich an, sagte sie, die Hände auf seinen Wangen. Es bedeutet mir sehr viel, dass du gut in der Schule bist. Einmal hatte er eine Mathearbeit mit einem goldenen Sternchen nach Hause gebracht, und sie war mit dem Daumen über das Sternchen gefahren und hatte dann strahlend aufgeblickt.
    Der Wind ließ die Regentropfen auf dem Fenster erzittern und trieb sie seitlich über die Scheibe. Frank senkte die Klinge des Hebelschneiders auf den letzten Stapel Kartonbögen hinunter.
    Irgendein Mädchen, das dich sucht, sagte Lana. Frank hob die Klinge wieder an.
    Lana zog den Putzeimer hinter sich her, und die Rollen ratterten über die Fliesen. Er hörte sie nebenan hantieren, den Eimer ausleeren, die Klospülung betätigen.
    Lana wusch die Kaffeebecher ab und rief ihm über das Rauschen des Wassers hinweg etwas zu.
    Du weißt, dass ich am Montag frei habe, oder?, rief sie. Und dann schrak sie zusammen, denn er stand plötzlich hinter ihr. Er hatte so eine Art, sich anzuschleichen.
    Ich will mit niemandem reden, der für mich anruft, sagte er. Lana schaute ihn einen Moment lang an, dann griff sie nach einem Lappen und begann die Theken abzuwischen.
    Wenn ein Anruf für dich kommt, sage ich es, mehr nicht.
    Er wusste, dass es Colleen gewesen war. Er wollte sein Geld zurück. Lana war eine Art Zigeunerin. Ihr Mann arbeitete während der Krabbensaison als Fischer, und im Winter arbeitete er bei Stoker’s Auto. Lana hatte mal erzählt, wie sie eine Ziege am Spieß über dem offenen Feuer geröstet hatten. Wir konnten zusehen, wie der Schnee über den Pass kam, sagte sie. In ihrer Kindheit hatten sie Eier und Speck auf der Motorhaube eines Autos gebraten.
    Wir sind im Wohnwagen herumgezogen, erzählte sie. Als Kind habe ich ganz Europa gesehen. Frank wünschte, er hätte Lana damals gekannt. Wenn auch er und seine Mutter hätten im Wohnwagen leben und Ziege essen können.
    Während wir die Knochen abnagten, sagte Lana, wurde es dunkel, und dann wurden die Geigen ausgepackt.

Isobel
    Gebt eurem Text die Zeit, die er braucht, um Gestalt anzunehmen, sagte Isobel. Das ist ganz wesentlich. Schauspieler vergessen das gern, dabei ist es das einzige, was sie in Erinnerung behalten müssen: Der Text muss Gestalt annehmen.
    Ein zwanzigjähriges Mädchen im Trainingsanzug stand mitten im Seminarraum, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, ein Manuskript in der Hand.
    Geht ans Bücherregal und nehmt ein Buch heraus, wenn es sein muss, sagte Isobel. Seid bewusst und zugleich vage.
    Sie habe mal Napoleon gespielt, erzählte sie ihnen. Selbst Napoleon müsse ungewiss erscheinen. Sie habe damals einen dieser Hüte getragen.
    Ihr Rat: Beobachtet, wie jemand in den Bus einsteigt oder das Papier von einem Muffin abzieht. Nehmt diese Mischung aus Präsenz und Abwesenheit wahr. Die solltet ihr anstreben. Denn darum geht es beim Spielen: um die Synthese von Abwesenheit und Präsenz. Verkörpert die Figur, akzeptiert, dass es keine Figur gibt; es gibt nur eine Reihe miteinander verknüpfter Gesten, erfundener Handlungen, kurzer Atempausen. Sie unterrichtete einen Abendkurs an der Universität. Das Institut für Darstellende Kunst erweiterte sein Angebot, und sie hatte festgestellt, dass sie problemlos mindestens einen Schauspielkurs pro Semester übernehmen konnte. Auch Dinnertheater war eine Option. Die Kreuzfahrtschiffe waren ein wachsender Markt. So etwas würde ihr leichtfallen.
    Was die Leute nicht verstehen, ist, dass Reue sich weiterentwickelt; das war ihr Trumpf. Ihr war die Reue vertraut, es war ein Farbton auf ihrer Palette, über den die jüngeren Schauspielerinnen nicht verfügten. Diese Nuance vermochten sie nicht einzubringen. Reue konnte einer Aufführung Tiefe geben – man konnte zur beachteten Schauspielerin werden, weil man im großen Stil Mist gebaut hatte, insbesondere wenn man nicht erwischt worden war. Ein großer Dreh im kommenden Sommer war im Gespräch. Sie hatte eine entsprechende E-Mail erhalten. Auch ein Hollywood-Star war im Gespräch, ein nicht ganz unbekannter Name, und man wollte etwas Lokalkolorit.
    Erst denkt man seinen Text bis zum Ende durch und dann spricht man ihn. Sprecht ihn, als wären keine Fragen mehr offen.
    Er hatte noch einmal angerufen, nach dem Feuer. Hatte erklärt, er werde sie decken. Sie hatte nichts gesagt, denn sie war entsetzt wegen der Sache mit dem Jungen. Sie hatte nicht gewusst – nicht im entferntesten geahnt –, dass er zu so etwas imstande war. Es war erschütternd,
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