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Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann

Titel: Sieben Siegel 04 - Der Dornenmann
Autoren: Kai Meyer
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Mondfinsternis
    Gegen elf Uhr abends hörte das Kind auf zu schreien. Endlich. Kyra sank erschöpft auf das Sofa vor dem Kamin.
    Babysitten!, dachte sie verächtlich. Nie wieder!
    Das Ganze war natürlich Tante Kassandras Idee gewesen. Kyra selbst hätte sich niemals freiwillig dafür gemeldet.
    »Du kannst dir damit dein Taschengeld aufbessern«, hatte Tante Kassandra gesagt.
    »Ich bekomme doch genug«, hatte Kyra hastig – und, zugegeben, ein wenig unüberlegt – erwidert.
    Tante Kassandra hatte listig gelächelt. »Das könnte man ja ändern …«
    Und damit war eigentlich alles klar gewesen. Kyras Schicksal war besiegelt. Babysitten also. Wie einfach das klang, wie harmlos. Beinah niedlich.
    Babysitten, fand Kyra, war eines dieser Worte, die nicht im Entferntesten das beschrieben, was sich tatsächlich dahinter verbarg. Ungefähr wie Sommergrippe. Sommer, das klang nach Sonnenschein, baden gehen und langen Nachmittagen in Lambertos Eisdiele. Aber Sommergrippe – das bedeutete, dass all diese Dinge mit einem Mal flachfielen. Keine Wasserspiele, kein Spagettieis – stattdessen bittere Säfte, Schüttelfrost und ein Fieberthermometer, das immer kaputt war, wenn man es brauchte.
    Mit Babysitten war es genau das gleiche Elend. Babys seien süß, erzählten in der Schule die Mädchen mit kleinen Geschwistern; knuffig und liebenswert, sagten sie. Pah! Kyra war da ganz anderer Ansicht, vor allem heute, an diesem schlimmsten aller schlimmen Abende. Liebenswert, liebe Güte! Leute, die solchen Unsinn verzapften, kannten Babys wahrscheinlich nur aus der Windelwerbung im Fernsehen.
    Echte Babys kreischten, dass die Wände bebten. Sie patschten mit ihren Fäusten im Essen herum, spuckten einem Brei ins Gesicht, und, Himmelherrgott, sie stanken fürchterlich.
    Ja, alles in allem waren sie verdammte Nervensägen.
    Und keines, wirklich keines auf der ganzen Welt, war schlimmer als Tommy.
    Tommy war der Graf Dracula der Wickeltische, der Darth Vader aller Krabbelgruppen. Tommy war, daran bestand nicht der leiseste Zweifel, der Teufel persönlich. Oder wenigstens sein Sohn. Jawohl.
    Kyra sank in die Sofakissen und schloss einen Moment lang die Augen. Sie würde den Geruch von vollen Windeln für mindestens eine Woche nicht von ihren Fingern losbekommen. Ganz zu schweigen von dem Geschmack des Gemüsebreis, den sie in sich hineingestopft hatte, um Tommy zu zeigen, wie toll das Mistzeug schmeckte.
    Aaargh …! Sie hätte sich die Haare ausreißen können vor Wut!
    Im offenen Kamin tanzten die letzten Flammen über verglühender Asche. Das Feuer würde jeden Moment ausgehen. Der Anblick beruhigte Kyra ein wenig. Nicht, dass sie sich nun besser fühlte … nein, aber sie begann, sich mit der Lage abzufinden. Das war es doch, was das Leben ausmachte: Sich mit Situationen abzufinden, ganz gleich, wie mies es einem ging.
    Oje, sie war wirklich in einer grauenvollen Laune! Wenn das so weiterging, würde sie noch den Fernseher einschalten. Und es gab wenig, was deprimierender war als das Samstagsprogramm nach dreiundzwanzig Uhr. Bei ihrem Glück würde sie wahrscheinlich auf das Wort zum Sonntag zappen, und mit Sicherheit würde gerade in diesem Moment die Fernbedienung kaputtgehen. Ja, das fehlte eigentlich noch.
    Tante Kassandra war mit ihrer Freundin Ruth ins Theater gefahren. Nicht hier in Giebelstein, sondern weiter weg, in den nächstgrößeren Ort. Nach der Vorführung würden sie noch in irgendeine Kneipe gehen und Frauengespräche führen. Kyra hatte wenig Hoffnung, dass sie vor drei oder vier Uhr morgens zurück sein würden. Und bis dahin musste sie auf Tommy aufpassen.
    Tommy war Ruths Sohn. Ruth war allein stehend, Kyra hatte Tommys Vater nie kennen gelernt. Eigentlich war Ruth ganz in Ordnung – ein Wunder, wenn man bedachte, dass sie es Tag für Tag mit diesem kleinen Ungeheuer aushielt. Sie und Tante Kassandra waren schon lange miteinander befreundet, und früher, als Tommy noch nicht auf der Welt gewesen war, hatte Ruth oft in Tante Kassandras Teeladen gesessen und die neuesten Teemischungen aus aller Welt durchprobiert. Heute aber, mit diesem Monster am Hals, waren die beiden Freundinnen froh, wenn sie ab und an mal einen Abend miteinander verbringen konnten. Und immer war Kyra die Leidtragende.
    Nicht, dass sie den beiden ihren Spaß nicht gönnte. Aber musste denn ausgerechnet sie die Babysitterin spielen?
    Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Gemüsebrei. Volle Windeln. Geschrei ohne Ende.
    Dann lieber doch das
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