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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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versuchte ihn zu beruhigen: „Ich versichere dir, Antoine hatte nichts damit zu tun. Ich habe viel an Mama gedacht.“
    Da er reglos dastand, ging ich zur Treppe. Nach einigen Schritten spürte ich seine Hand auf meiner Schulter und drehte mich um. Die Strenge in seinen Augen war verschwunden. Er nahm mich in seine Arme, küsste mich auf die Stirn und sagte leise: „Iss was, bevor du hochgehst. Du bist bestimmt hungrig.“
     
    Während ich zur Küche lief, ging er mit Anna zurück ins Wohnzimmer. Marie, die es kaum abwarten konnte, mir die Ereignisse vom Vormittag zu schildern, folgte mir. Ich drückte sie an mich, glücklich, dass ihr nichts geschehen war. Total aufgewühlt befreite sie sich aus meiner Umklammerung. Wort- und gestenreich berichtete sie: Der Tiger war offenbar einem Zirkus, der gerade im Nachbardorf gastierte, entlaufen. Papa und Anna hatten sie gebeten, nicht über den Löwen zu sprechen. Aber mir konnte sie das natürlich erzählen, obwohl es eigentlich ein Geheimnis war. Sie fragte sich
wieso
. Ich mich auch. Was verbarg Anna? Ihre Worte kamen mir wieder in den Sinn. Je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich: Sie war die Einzige, die mir helfen konnte, das Ganze zu verstehen. Ich wollte sie auf jeden Fall später anrufen. Völlig in Gedanken vertieft, schnitt ich mir in den Finger, als ich mir ein Brot machte. Schnell rannte ich zur Schublade, um ein Pflaster herauszuholen, bevor ich alles mit Blut verschmierte.
    Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer. Zuerst versteckte ich die Pyjamafetzen in meinem Papierkorb. Nichts wie weg mit dem Beweis meiner Verwandlung. Unter der Dusche verlor ich das Pflaster. Da nichts wehtat, achtete ich nicht weiter darauf. Erst als ich mich abtrocknete, stellte ich fest, dass ich gar keine Verletzung mehr hatte, nur eine winzige Narbe. Kaum war ich wieder in meinem Zimmer, klopfte jemand an der Tür: Anna.
    Als sie mich umarmte, ließ ich meinen Tränen hemmungslos freien Lauf. Ich spürte, sie wusste, was mit mir geschehen war.
    „ Oh Lilly, es tut mir so Leid. Deine Mutter und ich dachten, dass ein Umzug dir eine solche Erfahrung ersparen würde.“
    „ Das nennst du eine Erfahrung? Einen Albtraum solltest du sagen, ja. Und was hat meine Mutter damit zu tun? Oder besser gesagt, wie kommt es, dass der Stein, den ich von ihr habe, eine solche Verwandlung vollbracht hat? Erkläre mir bitte, was passiert ist, ich verliere langsam den Verstand.“
    „ Du bist ein Therianthrop“, sagte sie zögernd.
    „ Ein was?“
    „ Ein Therianthrop. Ein Gestaltwandler. Du hast die Gabe, die Form eines anderen Lebewesens anzunehmen.“
    „ Ich habe überhaupt keine Gabe. Es war der Stein.“
    „ Nein, Lilly. Dieser Stein hat nichts Magisches, du brauchst ihn nicht, um dich zu verändern. Es ist deine Angst, die alles ausgelöst hat, deine Angst und der Wille, ihnen zu helfen. Die erste Metamorphose geschieht fast immer in Extremsituationen. Die Furcht ist so groß, dass man nur noch instinktiv reagiert. Der Stein hat es vielleicht beschleunigt, weiter nichts.“
    „ Wieso ich? Du willst mir doch nicht erzählen, dass jeder, der in Panik gerät, zu einem Tier wird.“
    „ Du bist nicht irgendjemand. Du bist die Tochter einer Therianthropen, eines Hybriden besser gesagt. Reinrassige Therianthropen sind selten in Europa. Man findet sie höchstens in Afrika und Asien. Deine Mutter war ein schwarzer Panther. Sie hat es dir vererbt.“
    „ Ich war aber kein Panther.“
    „ Habe ich gehört, anscheinend hast du mehr von deiner Großmutter.“
    „ Oma?!“ Diese Vorstellung entsetzte mich fast noch mehr. „Kann sie sich denn auch verwandeln?“
    „ Ja … Ich könnte mir aber vorstellen, dass sie es seit Jahren nicht mehr getan hat. Wenn sie es wollte, könnte sie jederzeit die Gestalt einer Löwin annehmen, … so wie du heute Morgen“, fügte sie hinzu, als sie meinen erstarrten Blick bemerkte.
    „ Ich habe mich aber in einen Löwen verwandelt.“
    „ Wie in einen Löwen?! Bist du sicher?“
    „ Ich bin zwar momentan etwas verwirrt, aber trotzdem kann ich noch Männlein von Weiblein unterscheiden. Ich hatte eine riesige Mähne.“
    Anna war fassungslos.
    „ Sowas! Es ist das erste Mal, dass ich von einer Geschlechtswandlung während einer Metamorphose höre. Vielleicht …“, nachdenklich unterbrach sie ihren Satz.
    „ Ja?“
    Würde sie mich endlich an ihren Gedanken teilhaben lassen?
    „ Ich hatte mich gerade gefragt, ob die
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