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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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Mistgabel war jetzt nicht mehr auf den Tiger gerichtet, sondern auf mich. AUF MICH! Mein Magen drehte sich um, als mir klar wurde, dass mein Vater mich damit verletzen könnte. Schlimmer noch, er könnte mich töten. Ich versuchte, diese Gedanken zu unterdrücken, um mich voll und ganz der wahren Gefahr zu widmen.
    Langsam machte ich einige Schritte auf den Tiger zu. Der hatte nur noch Augen für mich. Er war so riesig, ich fürchtete, mein Mut könne mich verlassen. Mir wurde richtig schlecht. Der Zeitpunkt konnte nicht ungünstiger sein, um in Ohnmacht zu fallen. Mit einem Brüllen riss mich der Tiger aus meiner Erstarrung. Er schien nicht erfreut zu sein, einen Rivalen zu sehen, der ihm seine Beute streitig machte. Ohne Zögern brüllte ich zurück, und zwar so laut, dass ich selbst erschrak. Ich konnte kaum fassen, dass ich diejenige war, die diese Töne erzeugt hatte. Während wir uns langsam umkreisten, hielten wir den Abstand zwischen uns ein, ohne die Blicke abzuwenden. Am Rand meines Sichtbereichs, der verdammt groß geworden war, bemerkte ich, dass mein Vater Marie in die Arme genommen hatte. Seine Augen auf uns gerichtet, ging er langsam rückwärts zum Haus. Als meine Familie außer Gefahr war, konnte ich mich voll und ganz auf den Tiger konzentrieren.
    Ich fragte mich, ob ich wieder einen Laut von mir geben sollte, um ihn in die Flucht zu schlagen. Die Töne, die ich zuvor erzeugt hatte, waren so angsteinflößend gewesen, dass ich hoffte, mein Gegner würde die Flucht ergreifen. Schließlich war seine Mahlzeit mittlerweile im Haus verschwunden, sodass es nichts mehr gab, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Bevor ich überhaupt meine Gedanken in die Tat umsetzen konnte, sprang mich das Raubtier ohne Vorwarnung an. Ich war viel zu überrascht, um ihm zu entkommen, und brach unter dem Gewicht zusammen. Er versuchte, mich am Hals zu packen. Gott sei Dank hatte mich meine prächtige Mähne geschützt. Das half allerdings nur wenig gegen die Panik, ich fühlte mich ihm definitiv unterlegen. Erst als er versuchte, meine Mähnenhaare auszuspucken, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe: Ich stand auf und raffte meinen ganzen Mut zusammen, um mich auf ihn zu stürzen. Ich war jetzt dran. Ohne zu zögern ging ich ihm an die Gurgel. Überrascht verlor er das Gleichgewicht. Der Geschmack von Blut auf meiner Zunge bestätigte mir, dass ich ihn verletzt hatte. Sein Fell war jedoch nicht besudelt, die Verletzung konnte nur oberflächlich sein. Ich brüllte aus voller Kehle, um ihm klarzumachen, dass jetzt ein Rückzug angebracht wäre. Mit gesenktem Kopf stand er auf und lief rückwärts, ohne mich aus den Augen zu lassen. Nach zirka dreißig Metern drehte er sich um und rannte schnell davon.
    Erleichtert suchte mein Blick Marie und meinen Vater. Die Terrassentür war verschlossen. Ausnahmsweise waren die Vorhänge zugezogen. Bewegungen im Stoff verrieten mir, dass sie mich beobachteten. Ich wäre so gerne zu ihnen gegangen, um sie zu beruhigen, ihnen klarzumachen, dass sie nichts mehr zu befürchten hatten, ... dass ich es war. Ein Ding der Unmöglichkeit, ich besaß keine Stimme mehr. Also beschloss ich, mich zum Stall zurückzuziehen, um in Ruhe über die Alternativen nachzudenken, die sich mir boten. Als ich mich dem Gebäude näherte, vernahm ich Wiehern und Stampfen. Mein Geruch schien die Pferde nervös zu machen. Auf einmal hörte ich eine Sirene. Mein Vater musste die Polizei gerufen haben. Es war höchste Zeit für mich zu verschwinden. Sollte ich gefangen werden, würde ich sicher in einem Zoo landen. Bei dem Gedanken wurde mir übel. Ich rannte, was das Zeug hielt.
    Tief im Wald verkroch ich mich in einem Gebüsch. Mir wurde schlagartig bewusst, wie sehr sich mein Riechorgan entwickelt hatte. Dass ich den Geruch des Waldes so intensiv wahrnahm, lag nicht daran, dass ich praktisch mit der Nase auf dem Boden lag. Ich konnte definitiv viel besser riechen. Die Ohren des Löwen vernahmen Geräusche, die der Frau verborgen geblieben wären. Die Vielfalt der Tiere, die diesen Wald bewohnten, wurde mir schlagartig bewusst, so wie alle anderen Folgen dieser Verwandlung.
    Eine plötzliche Verzweiflung überkam mich. Ich weinte, es flossen aber keine Tränen. Nie wieder würde ich nach Hause zurückkehren können. Nie wieder würde ich meine Schwester und meinen Vater umarmen können. Ich hätte am liebsten vor Wut geschrien, aber die Angst, die Aufmerksamkeit von Spaziergängern auf mich zu lenken, war zu groß.
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