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Im Morgengrauen

Im Morgengrauen

Titel: Im Morgengrauen
Autoren: Christine Béchar
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auf meinen zerfetzten Pyjama, der immer noch auf dem Boden lag. Etwas glänzte zwischen den Stoffstücken. Meine Halskette, oder besser gesagt, die meiner Mutter. Meine Tante hatte sie mir gegeben, nachdem Mama uns verlassen hatte. Sie meinte, ich solle den Stein immer tragen. Meine Mutter hätte es so gewollt. Er würde mir helfen, Hürden zu bewältigen.
    Ich schaute ihn an. Hatte er etwas Magisches? Kaum ein Tag war in den letzten vier Jahren vergangen, ohne dass ich ihn berührt hätte. Prompt plagte mich mein Gewissen. Wie hatte ich ihn vergessen können? Dabei hatte ich mir selbst versprochen, ihn nie abzulegen. Wie gerne hätte ich ihn aufgehoben! Das war mir mit meinen großen Pranken jedoch nicht möglich. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Schmuckstück abwenden. Es zog mich magisch an. Instinktiv legte ich eine Pfote drauf. Sofort spürte ich ein Kribbeln in den Ballen.
    Wieder durchdrang Hitze meinen ganzen Körper. Erstarrt spürte ich wieder, dass etwas mit mir geschah, etwas Unkontrollierbares. Ich beobachtete meine Pfoten, wie schon am Morgen meine Hände. Die Haare wurden kürzer, als ob sie sich unter die Haut zurückziehen würden. Ich fühlte mich schrumpfen und spürte nun das Kribbeln im ganzen Körper. Allmählich konnte ich wieder meine Haut erkennen, ehe meine Sehkraft in der Dunkelheit nachließ. Meine Finger wurden wieder länger, meine Hände schmaler. Ich war außerstande irgendetwas zu tun, musste alles hinnehmen, ohne irgendetwas beeinflussen zu können. Was ich ohnehin nicht getan hätte, denn diesmal wusste ich, was mich erwartete. Zumindest hoffte ich es: Ich war dabei, mich in das Mädchen zu verwandeln, das ich gewesen war … Wenigstens physisch – in meinem Kopf würde ich nie mehr dieselbe sein.

3
     
     
     
     
    Nachdem meine Verwandlung vollendet war, zog ich mich schnell an, und schlich mich ganz langsam und unbemerkt zur Haustür. Ich machte sie auf und wieder zu, sodass jeder hören konnte, wie sie ins Schloss fiel. Anna kam mir entgegen, bevor ich überhaupt das Wohnzimmer erreicht hatte. In ihren Augen konnte ich Erleichterung gepaart mit Unbehagen lesen. Sie nahm mich in die Arme und flüsterte mir ins Ohr: „Sag ja nichts deinem Vater. Wir sprechen später darüber.“
    Auf einmal konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. All die Tränen, die ich den ganzen Tag nicht weinen konnte, flossen in Strömen über mein Gesicht. Marie stürzte sich auf mich und rief: „Lilly, du wirst nie erraten, was mir passiert ist!“
    Papa, der einen Moment lang in der Tür stehen geblieben war, kam langsam zu mir und umarmte mich.
    „ Endlich! Gott sei Dank, bist du da“, seufzte er.
    Ich wollte ihn fest umklammern, ihn nicht mehr loslassen. Er wand sich aber aus meiner Umarmung, machte einen Schritt nach hinten, um mich besser anschauen zu können, und verlangte in einem strengen Ton eine Erklärung: „Was ist in dich gefahren? Wir haben uns Sorgen gemacht. Hätte mich Anna nicht davon abgehalten, hätte ich schon längst die Polizei angerufen. Ich war kurz davor, es zu tun.“
    „ Entschuldigung, es kommt nie wieder vor“, stotterte ich verlegen.
    Eine Rückwandlung war mir so unwahrscheinlich erschienen, dass ich mir über eine plausible Erklärung für mein Verschwinden gar keine Gedanken gemacht hatte.
    Er guckte mich prüfend an und ließ nicht locker: „Was hast du denn den ganzen Tag gemacht? Wo warst du? Ich frage mich, wozu du ein Handy hast.“
    Fragen über Fragen, er ließ mir gar keine Zeit, sie zu beantworten.
    „ Entschuldige, ich musste nachdenken und bin am Fluss eingeschlafen.“
    Sein misstrauischer Blick durchbohrte mich.
    „ Du willst dort eingeschlafen sein? Hältst du mich für blöd? Manuel ist mehrmals am Fluss entlanggeritten, um dich zu suchen.“
    „ Ich habe einige Zeit in unserer Holzhütte verbracht.“
    „ Auch dort sind wir ein paar Mal hingelaufen. Willst du mir weismachen, wir hätten uns ständig verpasst? Wir haben alle deine Freunde angerufen. Du lässt mich in dem Glauben, die Geschichte mit Antoine sei ohne Belang, und dann verschwindest du einen ganzen Tag ohne ein Lebenszeichen. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel Sorgen ich mir gemacht habe? Ab sofort hast du Hausarrest. Nächste Woche gehst du nur vor die Tür, um zur Schule zu gehen. Du kannst froh sein, dass du bald zu deiner Großmutter fährst und dass ich meine Termine nicht verschieben kann, sonst würde ein anderer Wind wehen. Geh jetzt auf dein Zimmer!“
    Ich
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